Der Ruf der Pferde
nämlich noch brauchen.«
Er lächelte nicht, als er das sagte. Und beide wussten nur zu gut, dass es sich dabei in der Tat um keinen Witz handelte.
Die Ablenkung tat Patricia gut.
Erstaunlicherweise schaffte sie es tatsächlich, ihre Sorgen um Dallis für kurze Zeit beiseitezuschieben und den kleinen Abstecher, zu dem sie sich dann doch hatte überreden lassen, zu genießen. Obwohl sie letzten Endes doch nur ins Dorf liefen und im Gemischtwarenladen ein paar Sandwiches und zwei Dosen Cola erstanden, war Ethan anzumerken, wie sehr er sich über Patricias Einwilligung freute. Aber auch Patricia stellte erstaunt fest, dass selbst der ansonsten eher öde Gang ins Dorf sich in Ethans Gesellschaft als äußerst vergnüglich entpuppte.
War das wirklich das gleiche Dorf wie sonst auch? Es schien, als wäre Patricia noch nie hier gewesen.
Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft bemerkte sie, wie hübsch der Ort mit seinen bunt gestrichenen Häusern und den kleinen, verwinkelten Straßen eigentlich war. Selbst die Sammlung dümmlich grinsender, rot bemützter Keramikzwerge in einem der winzigen Vorgärten an der Hauptstraße, von denen sich Patricia stets mit Abscheu abwandte, wirkte plötzlich nur noch komisch.
Aber es war natürlich etwas ganz anderes, wenn auf einmal jemand dabei war, der die kitschigen Teile genauso grotesk fand und gemeinsam mit Patricia darüber kicherte.
Sie lachten auch nur noch, als sie, auf einer schiefen Bank am Feuerlöschteich sitzend, versuchten, ihre Sandwiches zu essen, und dabei feststellten, dass sie mindestens noch ein weiteres Paar Hände benötigten, um mit dem böigen Wind fertig zu werden. Nachdem sie verschiedene Strategien ausprobiert und unter Gelächter wieder verworfen hatten, entschieden sie schließlich, abwechselnd zu essen, während der jeweils andere alles festhielt, was wegfliegen oder dem Essenden in den Mund geweht werden konnte.
Und Patricia wunderte sich, wie viel Spaß es machen konnte, sich gegenseitig trockene Brotstücke mit magerem Käse-Kresse-Belag in den Mund zu schieben.
Erst als sie bei ihrer Rückkehr das Tor des McNair-Hofes erreichten, überfiel Patricia von Neuem dieses dumpfe Angstgefühl. Gleichzeitig stieg das schlechte Gewissen in ihr hoch: Wie konnte sie Spaß haben, obwohl sich Dallis’ Leben in Gefahr befand!
Ethan merkte sofort ihren Stimmungsumschwung.
Er blickte liebevoll zu ihr hinunter und drückte sanft ihre Hand, die er während des gesamten Rückweges warm und sicher gehalten hatte.
»Hab keine Angst«, sagt er leise. »Sie werden es nicht zulassen.«
Patricia seufzte nur. Könnte sie nur ebenfalls so viel Vertrauen haben!
Doch dann war es Ethan, der plötzlich stehen blieb.
»Wer ist denn das?« Patricia kniff die Augen gegen das Sonnenlicht zusammen. Silas unterhielt sich vor der Tür des Haupthauses mit einem fremden Mann. Eine eher schmächtige Gestalt, unbestimmbares Alter, gepflegte Halbglatze, wie Patricia mit flüchtigem Blick feststellte. Gekleidet war er in einen korrekten dunkelgrauen Anzug nebst modisch dezenter Krawatte. Der Gegensatz zwischen diesem Herrn und Silas’ knorriger Gestalt in seiner bäuerlichen Kleidung konnte nicht größer sein.
Patricias Blick blieb jedoch auf der schwarzen Aktentasche haften, die der Mann bei sich trug.
Ethan antwortete nicht auf ihre Frage, aber Patricia hörte, dass er heftig die Luft einzog.
Als sie erstaunt und besorgt zu ihm aufblickte, bemerkte sie, dass er ebenfalls den unbekannten Mann fixierte, wobei sich sein Gesicht deutlich verfinstert hatte.
»Kennst du den?« Sie merkte nicht, dass sie unwillkürlich flüsterte.
Ethan zögerte. Dann nickte er langsam.
»Mr Gaillard«, sagte er kurz.
»Und wer ist dieser Mr Gaillard?«, fragte Patricia, ein wenig ungeduldig darüber, dass sie Ethan jedes Wort aus der Nase ziehen musste. Gleichzeitig verspürte sie ein mulmiges Gefühl. Was bedeutete das, warum reagierte Ethan so merkwürdig?
Hatte es was mit Dallis zu tun?
»Er ist ein Geschäftspartner meines Vaters.« Ethans Gesicht war ausdruckslos.
»Hattest du schon öfter mit ihm zu tun?«
»Persönlich nicht«, sagte Ethan. »Er kommt aber ab und an zu meinem Vater in die Firma. Außerdem hab ich auch schon anderswo genug über seine Methoden gehört.«
Patricia zog die Stirn kraus. »Ich dachte, dein Vater hätte eine Brauerei oder so was. Wie kommt er denn dann mit solchen Leuten wie dem da zusammen? Der sieht doch eher aus wie ein Versicherungsfuzzi oder
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