Der Ruf der Pferde
seltsam, dachte Ethan.
Und der Verdacht, dass die gleichzeitige Abwesenheit von Patricia tatsächlich kein Zufall war, nahm allmählich Gestalt an.
Konnte es sein, dass Patricia mit Dallis abgehauen war?
Nein, das wäre zu verrückt! Ethan schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wo wollte Patricia mit der Stute denn hin? Es musste eine andere Erklärung geben.
Doch der Gedanke ließ ihn nicht los.
Was, wenn es stimmte?
Verzweifelt genug war sie.
Aber hätte sie dann nicht irgendetwas angedeutet, zumindest ihm gegenüber?
Nicht unbedingt, musste sich Ethan ehrlicherweise eingestehen. Mit seinem gestrigen Verhalten hatte er sicher nicht gerade ihr Vertrauen gewonnen. Das Risiko, dass er versuchen würde, sie von ihrem Plan abzuhalten, bestand eindeutig. Außerdem war sich Patricia bestimmt darüber im Klaren, dass es sich dabei um eine illegale Aktion handelte. Wenn man es genau betrachtete, um Diebstahl. Vielleicht wollte sie ihn auch deshalb nicht mit in die Sache hineinziehen.
Aber er wusste es nicht.
Er versuchte, sich das Telefonat in Erinnerung zu rufen. Worüber hatten sie gesprochen? Hätte er auf irgendetwas besser achten müssen?
Ethan fiel nichts ein, so intensiv er auch nachdachte.
Mit einem Seufzer blickte er erneut auf die Uhr. Nein, das war wirklich nicht normal, dass Patricia immer noch nicht hier war.
Irgendetwas war da faul.
Was sollte er unternehmen? Sollte er überhaupt etwas unternehmen?
Es ging auf zehn Uhr zu, als Ethan ein Auto auf den Parkplatz einbiegen und gleich darauf Türenschlagen hörte. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. Viele der Kinder wurden von ihren Eltern mit dem Wagen gebracht und wieder abgeholt. Doch irgendetwas alarmierte Ethan instinktiv und er rutschte von der Stange des Koppelzaunes herunter, wo er wartend saß.
Ein Mann mittleren Alters in Jeans und Rollkragenpullover kam durch das Tor herein und sah sich aufmerksam um.
Ethans Blick blieb an dem großen, kantigen Metallkoffer hängen, den er bei sich trug.
Der Amtstierarzt, jede Wette, dachte er. Gott sei Dank ist Dallis nicht da!
Dieser Gedanke, der ihm ganz spontan kam, überraschte ihn selbst. Jetzt erst wurde ihm das Ausmaß des Ganzen richtig bewusst. Er fühlte nichts als Erleichterung, dass das Pony verschwunden war. Jetzt endlich verstand er Patricias Verzweiflung. Und er wusste plötzlich ganz klar und deutlich, dass Patricia Dallis entführt hatte, um sie genau davor in Sicherheit zu bringen.
Gleichzeitig begann er, ernsthaft unruhig zu werden. Wo war Patricia mit dem Pony hin?
Als der Tierarzt die Stufen zum Haupthaus hinaufschritt, fasste Ethan einen Entschluss.
Schnell sattelte er Sonny und schwang sich auf dessen Rücken. Patricia hatte ihm irgendwann einmal erzählt, dass sie und ihre Familie in einer kleinen Pension untergekommen waren und dass die Wirtin, eine Mrs Dench, sie zu Tode nervte.
Ethan kannte keine Mrs Dench – aber es würde sich bestimmt herausfinden lassen, wo sie wohnte.
Als Ethan Sonny vor der Einfahrt des Anwesens zügelte, merkte er sofort, dass wirklich etwas nicht in Ordnung war. Die Tür stand offen und aus dem Haus ertönten aufgeregte Stimmen. Trotzdem war der Hufschlag seines Pferdes offensichtlich nicht unbemerkt geblieben, denn schon nach wenigen Augenblicken stürzte ein kleinerer blonder Junge in einem Trikot der Glasgow Rangers heraus.
Als er Ethan sah, blieb er enttäuscht stehen.
»Nee, das ist jemand, den ich nicht kenne!«, rief er nach drinnen gewandt und Ethan schloss daraus, dass man jemanden erwartete.
Patricia?
Ein Mann trat heraus. Die Ähnlichkeit mit Patricia war unverkennbar. Das musste ihr Vater sein und seinem Gesichtsausdruck nach befand er sich in großer Sorge.
Ethan schwang sich aus dem Sattel und hängte Sonnys Zügel über einen Zaunpfosten. Patricias Vater war herangekommen und sah ihn hoffnungsvoll an. Ethan trat einen Schritt näher und wollte gerade etwas sagen, als ihm der Mann zuvorkam.
»Entschuldigung, ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie kommen doch sicher von dem Reiterhof da drüben. – Haben Sie zufällig meine Tochter gesehen? Patricia Mackintosh, sie ist fast fünfzehn, blaue Augen, blonder Pferdeschwanz . . .«
Ethans Hoffnung sank bei diesen Worten. Patricia war also tatsächlich weg.
Er schüttelte den Kopf. »Deswegen bin ich gekommen«, sagte er. »Ich bin Ethan Longmuir, ein Freund von Patricia, und eigentlich habe ich gehofft, sie hier zu finden.«
Die Schultern von Mr Mackintosh sackten herunter, er
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