Der Ruf der Steine
Peter blind. Er hielt sich die Hand vor Augen und zwinkerte. Kein Unterschied. Keinerlei Trost von oben. Das Blätterdach war eine undurchdringliche Barriere. Und schlimmer noch: Die Luft war wie erstarrt.
Mit den Händen tastend, versuchte er, sich zu orientieren. Er suchte einen Weg und konzentrierte sich darauf, nicht durch niedrige Äste aus dem Gleichgewicht gebracht zu werden. Er tröstete sich damit, dass in spätestens sechs Stunden Erdhörnchen, Spatzen und schwarzäugige Rehe hier herumturnen würden. Er befand sich noch immer auf demselben Planeten – doch in der Nacht war alles anders. Trotzdem konnte er seine Ängste nicht so einfach aus seinem Kopf verbannen. Ein kleiner Rest blieb. Dieses Wesen hat dir Angst gemacht, sagte er sich. Und seine Imagination hatte den Rest besorgt. Mehr war nicht geschehen. Lediglich eine weitere mentale Halluzination. Seine Ängste in Bezug auf die Grabung, auf Connie, auf das gespannte Verhältnis zu Flanagan und auf seine zukünftige Karriere waren kumuliert. Du hattest schlicht Angst, und dein Unterbewusstsein hat sich zeitweise verselbstständigt. Das passiert auch den Besten unter uns.
Vorsichtig schob er einen Fuß nach dem anderen nach vorn und tastete nach Hindernissen. Mehrere Male stolperte er und stürzte auf den weichen Waldboden. Es gab nicht allzu viel Unterholz, weil das Sonnenlicht kaum bis nach unten drang. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bereits herumgeirrt war. Zeit und Entfernung waren außer Kraft gesetzt. Er wusste auch nicht, wie lange er diesen Irrsinn noch aushalten konnte, bevor sein letztes Restchen Verstand aufgebraucht sein würde. Er hatte das Wesen nicht vergessen, doch in erster Linie konzentrierte er sich jetzt auf seinen Weg durch die Finsternis.
Irgendwann wurde ihm bewusst, dass es absolut still geworden war. Kein einziges Geräusch war zu hören. Noch vor Minuten hatte wildes Zirpen die Luft erfüllt, doch nun war alles still, als ob er plötzlich von einem ernsten Tinnitusanfall genesen wäre. Totenstille. Nur sein eigener keuchender Atem war zu hören.
Hier entlang.
Diesmal hatte er die Stimme klar und deutlich gehört. Er ging einen Schritt weiter auf die Stimme zu, denn er kannte sie.
Nein, Peter, hier entlang.
Diese Stimme. Sie rief ihn beim Namen.
Wieder wandte er sich der Stimme zu. Doch urplötzlich wurde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen.
20
Im nächsten Moment taumelte er und stolperte in den Abgrund. Am Ende des Waldes fiel der Boden offenbar steil zum flacheren Land hin ab, und Peter rollte bis zum Fuß des sandigen Abhangs hinunter.
Eine Minute lang lag er stocksteif da. Er war von Kopf bis Fuß mit Sand überzogen. Es regnete sanft und gleichmäßig. Irgendwann bewegte er Arme und Beine, um sich zu vergewissern, dass nichts gebrochen war. Alles war in Ordnung.
Obwohl jeder Knochen schmerzte und er völlig durchnässt war, befiel ihn Heiterkeit. Er befand sich nicht länger im Wald – nie hatte diese Redensart mehr Sinn gemacht.
Aber die Heiterkeit hing auch mit Linda zusammen. Sie hatte ihn aus dem Wald herausgeführt.
Er befand sich auf flachem, weichem Boden, der unter ihm federte, als er aufstand. Im stahlgrauen Dämmerlicht unter dunklen Wolken erkannte er, dass er am Rand eines großen Feldes mit reetähnlichem Gras stand. Er blickte den Steilhang empor, über dem die hohen Eichen wie eine Festung aufragten, und war froh, dass er dieser unheimlichen Welt entronnen war.
Während er dastand und den Regen auf der Haut fühlte, bekam die ganze Sache zusehends mehr Profil. Keine Ahnung, was letztlich die Erleuchtung bewirkte, aber plötzlich stand fest: Dies war ein mystisches Erlebnis. Er hatte sich in dem Schrecken erregenden Wald verloren, und sie hatte ihm den Weg in die Sicherheit gewiesen. Es war ihre Stimme gewesen. Laut und deutlich. Er hätte sie in jeder Situation wieder erkannt. Die Stimme des geliebten Menschen ging nicht verloren – ganz gleich, wie lange der Mensch schon tot war. Linda hatte von der anderen Seite aus zu ihm gesprochen. Wie versprochen war sie zurückgekommen.
Peter war fasziniert, wie ruhig er diese Erkenntnis aufnahm. Vielleicht war sein Verstand durch die Ereignisse dieser Nacht sanfter geworden. Jedenfalls war es ein wunderbares Gefühl. Er hatte es sich nicht vorstellen können – doch wie sonst hätte er alles dies lebendig und gesund überstehen können? Linda hatte auf ihn aufgepasst. Sie war sein Schutzengel, wie Andy das nannte. Peter hatte
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