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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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einzusinken. Als ob er durch Exkremente watete. Am meisten beunruhigte ihn jedoch, dass er von Schritt zu Schritt mehr Kraft aufwenden musste, um seinen Fuß herauszuziehen.
    »Hilf mir.«
    Peter, Peter. Es geht in Erfüllung.
    »Wie bitte?«
    Hier entlang.
    Er schlug mit der Hand in Richtung der Stimme, doch er traf nur die Halme. Die steifen Schilfhalme glitten durch seine Finger. Bis zu den schwammähnlichen Enden. Katzenschwänze. Einmal hatte er zusammen mit Linda neben der Straße Schilfrohr abgeschnitten. Als haarige braune Würste hatte sie die Enden bezeichnet. Nun war er von Abertausenden dieser Würste umzingelt. Mitten in einem Vogelparadies, das bei Tageslicht sicher wunderschön war, aber nachts einer tödlichen Falle glich.
    »Linda! Du hast mich hereingelegt!«, schrie er, als er endgültig feststeckte.
    Hinter der Wolkendecke leuchtete der Himmel grünlich auf, und drei Sekunden später explodierte der Donner genau über seinem Kopf. Der Regen peitschte ihm gnadenlos ins Gesicht.
    Peter hatte gelesen, dass sich Menschen im Sumpf verirrten und manchmal in Treibsandlöchern spurlos verschwanden. So etwas passierte immer weit entfernt, irgendwo in Afrika oder Asien. Doch hier befand er sich in der Hafenbucht von Boston. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass dies hier die Wirklichkeit war und der Treibsand ein grundloses weiches Moor, das seinen Körper zu verschlingen drohte.
    Die Schlussfolgerung war brutal: Linda hatte ihn hierher gelockt, schon die ganze Nacht. Sie war mit der Laterne vor ihm hergelaufen. Die Gestalt auf dem Hügel war sie gewesen.
    Linda. Sie hatte Connie durch seinen Körper attackiert.
    Linda. Sie kehrte aus dem Jenseits zurück.
    Linda. Dies war ihre Rache.
    In plötzlicher Panik zerrte er einen Fuß aus der nassen Umklammerung, dann den anderen, und versuchte auf einem Büschel Katzenschwänzen festen Tritt zu finden. Er warf sich nach vorn und hörte, wie die Halme unter seinen Schritten umknickten. Wenn er immer in Bewegung blieb, konnte er nicht einsinken. Er stolperte einige Schritte weiter, aber dann trat sein rechter Fuß in ein Wasserloch. Ein ersticktes Gurgeln, und diesmal steckte sein Bein bis zum Knie fest. Mit einem blubbernden Seufzer gab auch der Boden unter dem anderen Fuß nach.
    »Es war ein Unfall«, beschwor er sie. »Ein gottverdammter Unfall.«
    Er packte ein Bündel Schilfrohre wie einen Rettungsring und gewann sein Gleichgewicht zurück. Doch er wagte es nicht, sich zu rühren, um nicht weiter nach unten gezogen zu werden. Einige Minuten lang verharrte er so und beruhigte sich durch Hecheln – genauso hatten sie es in Lindas Schwangerschaftskurs gelernt. Er versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, während ihm der Regen wie Vogelkot ins Gesicht klatschte.
    Er dachte an Lindas Gesicht in ihrer letzten Nacht. Voller Hass und Wut hatte es ihn angesehen. In der Erinnerung erstrahlte es in giftig grünem Licht.
    Geh weg!, rief sein Verstand.
    Er musste sich ganz auf sich konzentrieren, wenn er hier herauskommen wollte. Höchstwahrscheinlich befand er sich am Rand eines ausgedehnten Sumpfes. Wenn er sich um hundertachtzig Grad drehte, konnte er vielleicht auf dem Bauch rutschend bis zum Steilhang kriechen. Dort wollte er, komme, was da wolle, den Tagesanbruch abwarten. Ein hysterisch brüllender Andy war immer noch besser dran als ein Andy ohne Vater.
    Er packte das Schilf und hob ein Bein, woraufhin das andere prompt noch tiefer einsank. Ganz langsam wurde er nach unten gesaugt. Reflexartig setzte er sich nieder und fühlte die warme Umarmung des weichen Moorbodens. Mit beiden Händen packte er seinen rechten Fuß und zog ihn hoch. Dann rollte er sich auf die Seite und zerrte das andere Bein unter sich. Der weiche Brei lief über sein linkes Knie, und langsam glitt er wie eine warme Hand bis zu seiner Hüfte. Peter senkte seinen Kopf auf das Bett aus niedergetrampeltem Schilf. Deutlich roch er das Salz. Regen prasselte auf ihn herunter, während seine Ellenbogen tiefer einsackten und der moorige Brei seitlich emporstieg. Die abgeknickten Schilfrohre drückten wie Speerspitzen gegen seine Haut. Jauchegeruch peinigte ihn. Trotzdem hielt er einen Moment lang inne, um alle Kräfte für den letzten Rettungsversuch zu sammeln.
    Vor seinem inneren Auge erstanden die Bilder von Moormenschen, die zweitausend Jahre lang vom Moor konserviert worden waren und teilweise noch Würgeseile um den Hals trugen. Ihre Haut schimmerte wie bronzefarbenes Leder. Aus unbekannten

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