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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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sie gehört. Seine Linda. Nie hätte er es für möglich gehalten, und zu verstehen war es auch nicht – aber offenbar gab es so etwas wie ein Leben nach dem Tod. Lindas Stimme war der Beweis. Ich werde nie wieder Zweifel äußern, sagte er sich.
    Irgendwann begann er zu gehen – so gelassen, ruhig und heiter, wie Heilige einer Erscheinung folgen.
    Nach einer Weile fühlte sich der Boden unter seinen Füßen bei dem ständigen Regen sehr viel weicher an. Es regnete, seit er den Wald betreten hatte. Er überlegte, was aus dem Wesen mit der Laterne geworden war. Diese Geschichte schien ein ganzes Leben zurückzuliegen. Nun war die Erscheinung verschwunden, und mit ihr war auch die Angst gewichen.
    Peter, hier.
    »Linda, bist du das?«
    Ich habe etwas für dich, Peter. Etwas sehr Wichtiges.
    Es waren keine Sätze, die man einfach so hören konnte, sondern schattenhafte Eindrücke, die sich unmittelbar dem Gehirn mitteilten.
    »Was denn? Wo bist du?«
    Er erhielt keine Antwort, doch das störte ihn nicht. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Während er weiter über das Grasfeld ging, wurde ihm ganz leicht zu Mute. Linda war da und gab auf ihn Acht.
    Lieber Gott, ich danke dir.
    Dass er kein Licht mehr vor sich hatte, hinderte ihn nicht am Vorwärtskommen. Dank der nur dünnen Wolkenschicht war es hell genug, und weit entfernt zuckte Wetterleuchten über den Himmel.
    Er ging immer weiter. Wasser drang in seine Schuhe ein. Warmes Wasser. Wärmer als der Regen – von der Sonne erwärmtes Wasser. Noch ein paar Schritte auf glitschigen Grasinseln. Als sich seine Augen an das diffuse Licht gewöhnt hatten, sah er, dass er von hohem Gras umgeben war. Und nach weiteren Schritten dämmerte ihm, dass Schilfgras und weicher Untergrund zu den Sumpfwiesen gehörten.
    Er hätte umkehren können. Er war höchstens sechs bis acht Meter weit gegangen. Aber was dann? Sollte er versuchen, den sandigen Abhang wieder zu finden und emporzuklettern, und, wenn ihm das gelang, erneut den Wunderwald durchqueren? Nichts da, Jose, hätte Andy gesagt.
    Andy.
    Er schluckte heftig. Gebe Gott, dass er schlief. Falls er erwachte, bevor Peter zurück war, war wenigstens Connie da.
    Connie.
    Mit einem Mal passte alles ins Bild. Damals in der Nacht hatte nicht der Wahnsinn ihn gepackt, sondern Linda. Sie hatte sich in ihm breitgemacht, in seinem Kopf und in seinem Körper. Es war sicher ratsam, jetzt nicht an Connie zu denken. Linda war schon immer auf andere Frauen eifersüchtig gewesen. Außerdem musste er schnell nach Hause.
    Wie lange war er wohl schon weg? Eine Stunde? Oder zwei? Seltsam, dass er jedes Zeitgefühl verloren hatte. »Linda, hilf mir.«
    Er ging weiter und versuchte, nicht daran zu denken, dass er womöglich mitten in eine Salzwiese hineinlief, die sich langsam mit Regen füllte. Er schlug eine andere Richtung ein, aber auch dort war der Untergrund sumpfig. Er machte erneut kehrt und schob die Schilfrohre mit der Hand auseinander.
    Hier entlang.
    Sein Fuß ertastete einen Stein. Fester Halt. Erleichtert atmete er auf. »Ich danke dir«, flüsterte er.
    Ja, Peter … Hier entlang, hier entlang, hier entlang.
    Die Stimme klang etwas lauter. So laut wie der leise Donner in der Ferne.
    Es war Lindas Stimme, ganz sicher. Ich habe auf dich gewartet.
    Es war eindeutig ihre Stimme, aber er vermisste den typischen Klang.
    Vielleicht bildeten die Steine eine Reihe, eine Art natürlichen Weg zum Strand. Er ging weiter, doch nach dem vierten war Schluss – warmes Sumpfwasser rann in seine Schuhe. Es stank nach Verwesung. Er stellte sich vor, dass er auf der obersten Schicht einer Matschgrube stand, in der alles verweste, was jemals gelebt hatte. Ein schwarzer Pudding, der bis hinunter zum Känozoikum reichte.
    Wohin führt mich Linda, falls sie es tatsächlich ist?, fragte er sich. Er befand sich noch immer am Rand des Sumpfgebietes. Vielleicht zog er sich besser zum Steilhang zurück und wartete auf den Sonnenaufgang. In wenigen Stunden würde es überall von Bauarbeitern wimmeln.
    Nein. Es war Sonntag, da arbeitete niemand.
    Zu seiner Rechten flatterte und schnatterte es. Vögel. Rings herum nur Nester – wahrscheinlich Sumpfdrosseln. Wieder ging er ein paar Schritte. Der schwammige Moorboden reichte ihm nun bis an die Knöchel, und es schmatzte, wenn er den Fuß herauszog. Der Regen peitschte ihm in die Augen, und ein scharfsaurer Geruch stach ihn in der Nase. Mit jedem Schritt schien er ein Stück tiefer in dem zähen Brei

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