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Der Ruf der Steine

Der Ruf der Steine

Titel: Der Ruf der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Goshgarian
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Gründen hatte man sie zum Tode verurteilt und im Moor abgelegt. Genauso, wie er hier lag. Weil er Linda getötet hatte. Er schloss die Augen und redete mit sich selbst: Es geht in Erfüllung? Es bedeutet meinen Tod! Sie ist zurückgekommen, um mich zu meinem Ende in dieser Jauchegrube zu geleiten.
    Peter stieß einen langen Schmerzensschrei aus. Der letzte Wutschrei eines Mannes, der dem Tod ins Gesicht sah. In einer gewaltigen Bewegung knickte er zusammen und wehrte sich voller Panik gegen das Unausweichliche.
    Aber die Anstrengung öffnete lediglich ein Wasserloch unter ihm, in dem er bis zur Hüfte versank. Noch wenige Augenblicke, dann würde ihm die Brühe bis zur Brust reichen und seine Beine und den ganzen Körper zur Bewegungsunfähigkeit verdammen. Schließlich würde der Brei bis zum Nacken ansteigen und dann Mund und Nase verstopfen. Mit einer letzten Luftblase würde sich das Moor für immer über ihm schließen. Entsetzliche Minuten lang würde er noch um sich schlagen und tiefer und tiefer einsinken. Statt Luft würde seine gepeinigte Lunge nur heißes Moorwasser einsaugen.
    Werde ich Gott begegnen?
    Dies war Peter Van Zandts letzter Gedanke, bevor gleißendes Licht seine Augen blendete.

 

    21
    Licht.
    »Linda?«
    Eine dunkle Gestalt beugte sich über ihn. Das Gesicht konnte er nicht erkennen. Er verspürte einen heftigen Schlag gegen die Schulter. Ein zugespitzter Ast vibrierte vor seinem Gesicht. Ohne nachzudenken, packte er mit beiden Händen zu. Und dann fühlte er, wie er im Zeitlupentempo aus der warmen Umarmung des Moors ins Licht gezerrt wurde.
    Das Licht – die flackernde Flamme in einer Laterne – befand sich auf gleicher Höhe mit ihm. Er ließ den gelben Schein nicht aus den Augen und dachte, dass dies der schönste Anblick des Universums war.
    Er vollführte einige energische Schwimmstöße, und Sekunden später lag er auf einem schmalen Holzsteg, der durch den Sumpf führte. Um ein Haar wäre er einen guten Meter daneben ertrunken.
    Er rollte zur Seite und richtete den Blick nach oben. Eine große Gestalt mit einem Geweih auf dem Kopf stand aufgerichtet über ihm und zielte mit einem ypsilonförmigen, zugespitzten Ast auf seine Brust. Verständnislos starrte er das Ding an, aber nichts geschah. Und dann entwickelte sich die Erinnerung langsam wie ein Polaroidfoto zu strahlender Schärfe: Die ganze Lewis-Carroll-Revue.
    Er rappelte sich hoch. Seine Kleider stanken faulig. Irgendwann merkte er, dass er zwei Gesichter anstarrte. Einen schwarzschnäuzigen Hirsch mit leeren Augenhöhlen und einem gewaltigen Geweih und darunter verdeckt ein menschliches Gesicht. Ein bleiches, aufgedunsenes Gesicht mit tief liegenden Augen, die ihn aus dem skelettierten Schädel heraus betrachteten. Das spärliche Licht und der strömende Regen trübten seinen Blick, und bevor er das Gesicht genau erkennen konnte, wandte die Gestalt sich um. Linda war es jedenfalls nicht. Es war ein Mann.
    Die Gestalt ging über die Planken davon und schwang auffordernd die Laterne. Und eifrig wie ein kleines Küken folgte Peter seiner Henne durch das hohe Riedgras.
    Trotz des peitschenden Regens konnte Peter im Flackerlicht ein wenig mehr von der Gestalt erkennen. An dem Hirschschädel war vorn und hinten eine Art Fell befestigt, das die Gestalt teilweise verhüllte. Darunter erkannte er hohe Gummistiefel. Altmodische Galoschen, die mit Schnallen geschlossen wurden – »Pferdefüße« nannte seine Mutter sie. Der erste Hinweis darauf, dass das Wesen womöglich doch der realen Welt angehörte. Andererseits war sich Peter überhaupt nicht mehr sicher, ob die reale Welt noch existierte und wo genau er sich in diesem Spiel befand. Lindas erdrückende Gegenwart hatte sich jedenfalls verflüchtigt.
    Während er der Gestalt durch den Sumpf folgte, gingen ihm tausend Fragen durch den Kopf.
    Daddy, wer ist der Mann dort im Wald?
    Dasselbe flache, ausdruckslose Gesicht.
    Er sagte, dass er mir die Kehle durchschneiden würde.
    Nichts passte zusammen. Peter war irritiert. Er war nur froh, dass er noch am Leben war, dachte er unentwegt, während er wie eine braune Mumie durch den Sumpf trottete. Wider Erwarten war er noch am Leben. Er war verschont worden. Linda hatte ihn verschont. Der Sumpf war die Sühne gewesen.
    Mit einem Mal fühlte er sich beschwingt und erleichtert wie nie. Als ob er mit Helium angefüllt sei und gleich abheben würde. Eine rein physische Erleichterung, nicht mehr gefesselt zu sein. Wenn man von einem

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