Der Ruf Der Trommel
ansah.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, daß sie von Euch geträumt hat, in der Vollmondnacht vor zwei Monaten.«
»Von mir?«
Gabrielle nickte. Nayawenne legte mir die Hand auf den Arm und blickte mir aufmerksam ins Gesicht, als wollte sie sehen, welche Wirkung Gabrielles Worte hatten.
»Sie hat uns von dem Traum erzählt, in dem sie eine Frau gesehen hatte mit -« Ihre Lippen zuckten, doch rasch hatte sie sich wieder unter Kontrolle und berührte sacht die Spitzen ihres eigenen, glatten Haars. »Drei Tage danach kehrten mein Mann und seine Söhne zurück und berichteten, daß sie Euch und dem Bärentöter im Wald begegnet waren.«
Berthe betrachtete mich ebenfalls mit unverhohlenem Interesse und wickelte sich eine Strähne ihres dunkelbraunen Haares um die Spitze ihres Zeigefingers.
»Sie, die heilt, hat sofort gesagt, daß sie Euch sehen muß, und als wir dann hörten, daß Ihr hier seid…«
Das jagte mir einen kleinen Schrecken ein; ich hatte nicht das Gefühl gehabt, daß wir beobachtet wurden, und doch hatte ganz offensichtlich jemand unsere Anwesenheit auf dem Berg bemerkt und Nacognaweto die Nachricht überbracht.
Da ihr diese Nebensächlichkeiten zu lange dauerten, stieß Nayawenne ihre Schwiegerenkelin an, sagte etwas und wies dann nachdrücklich auf das Wasser zu unseren Füßen.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, Ihr seid ihr hier an dieser Stelle im Traum erschienen.« Gabrielle wies auf das Becken und sah mich mit großem Ernst an.
»Sie ist Euch hier in der Nacht begegnet. Der Mond war im Wasser. Ihr habt Euch in einen weißen Raben verwandelt, seid über das Wasser geflogen und habt den Mond verschluckt.«
»Oh?« Ich hoffte, daß das keine Untat von mir gewesen war.
»Der weiße Rabe kam zurück und hat ihr ein Ei in die Handfläche gelegt. Das Ei ist aufgesprungen, und es war ein glänzender Stein darin. Die Großmutter meines Mannes wußte, daß dies ein großer Zauber war, daß dieser Stein Krankheiten heilen kann.«
Nayawenne nickte mehrere Male, nahm den Amulettbeutel erneut von ihrem Hals und griff hinein.
»Am Tag nach dem Traum ist die Großmutter meines Mannes in den Wald gegangen, um kinnea -Wurzeln auszugraben, und unterwegs hat sie etwas Blaues im Lehm am Bachufer stecken sehen.«
Nayawenne zog einen kleinen Klumpen hervor und legte ihn mir
in die Hand. Es war ein Stein, zwar ungeschliffen, aber eindeutig ein Edelstein. Es hafteten noch Teile der Steinmatrix daran, doch das Herz des Steins war von einem tiefen, sanften Blau.
»Mein Gott - das ist ein Saphir, nicht wahr?«
»Saphir?« Gabrielle ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, als wollte sie seinen Geschmack prüfen. »Wir nennen ihn« - sie zögerte und suchte nach der richtigen französischen Übersetzung - »pierre sans peur.«
»Pierre sans peur?« Ein Stein ohne Furcht?
Nayawenne nickte und fuhr fort. Bevor ihre Mutter den Mund auftun konnte, fiel Berthe mit der Übersetzung ein.
»Die Großmutter meines Vaters sagt, ein Stein wie dieser sorgt dafür, daß die Menschen keine Angst bekommen, er stärkt ihre Lebensgeister, so daß sie schneller gesund werden. Dieser Stein hat schon zwei Menschen vom Fieber befreit und die Augenentzündung meines jüngeren Bruders geheilt.«
»Die Großmutter meines Mannes möchte Euch für dieses Geschenk danken.« Geschickt übernahm Gabrielle wieder die Gesprächsführung.
»Äh… sagt ihr, keine Ursache.« Ich nickte der Alten freundlich zu und gab ihr den blauen Stein zurück. Sie ließ ihn in den Beutel fallen und verschloß ihn wieder. Dann sah sie mich genau an, streckte die Hand aus, zog an einer meiner Locken und rieb sie beim Sprechen zwischen ihren Fingern.
»Die Großmutter meines Mannes sagt, ihr habt die Heilkraft schon, aber sie wird noch zunehmen. Wenn Euer Haar so weiß ist wie das ihre, werdet Ihr zu Eurer ganzen Macht finden.«
Die Alte ließ die Haarlocke los und sah mir einen Moment lang in die Augen. Ich glaubte eine große Traurigkeit in den verblichenen Tiefen zu sehen, und streckte unwillkürlich die Hand aus, um sie zu berühren.
Sie trat zurück und sagte noch etwas. Gabrielle blickte mich seltsam an.
»Sie sagt, Ihr sollt Euch keine Vorwürfe machen, Krankheiten werden von den Göttern gesandt. Es wird nicht Eure Schuld sein.«
Ich sah Nayawenne erschrocken an, doch sie hatte sich schon abgewandt.
»Was wird nicht meine Schuld sein?« fragte ich, doch die Alte war nicht bereit, mehr zu sagen.
21
Nacht auf dem verschneiten
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