Der Ruf Der Trommel
»Was hat sie denn gemacht?«
Was zum Teufel hatte sie getan? fragte er sich. Sicher nichts, was den Tod den Mannes herbeigeführt hatte; das hätte er ihr sofort angesehen. Sie fühlte sich auch nicht schuldig oder hilflos - er hatte sie schon oft in den Armen gehalten und sie getröstet, während sie um jene weinte, die sie nicht retten konnte. Diesmal war sie still und niedergeschlagen gewesen - genau wie Ian -,aber nicht sehr verstört. Sie war ihm nur etwas verwirrt vorgekommen.
»Sie hatte Schlamm im Gesicht. Und sie hat ihm etwas vorgesungen.
Ich glaube, es war ein Papistenlied; es war auf Lateinisch und es hatte irgend etwas mit Sakramenten zu tun.«
»Wirklich?« Jamie unterdrückte sein eigenes Erstaunen über diese Beschreibung. »Aye, na ja. Vielleicht wollte sie dem Mann nur etwas Trost spenden, weil sie gesehen hat, daß sie ihm nicht helfen konnte. Die Indianer sind viel anfälliger für die Nebenwirkungen der Masern, wißt Ihr; manche Infektionen, die für sie tödlich sind, entlocken einem Weißen nicht einmal ein Stirnrunzeln. Ich habe selbst als kleiner Junge die Masern gehabt, und sie haben mir überhaupt nicht geschadet.« Er lächelte und richtete sich auf, als wollte er seine offenkundige Gesundheit demonstrieren.
Die Linien der Anspannung im Gesicht des Jungen lockerten sich ein wenig, und er trank vorsichtig einen Schluck von dem heißen Tee.
»Das ist es auch, was Mrs. Fraser gesagt hat. Sie hat gesagt, daß Papa nichts passiert. Sie - sie hat mir ihr Wort darauf gegeben.«
»Dann kannst du dich auch darauf verlassen«, sagte Jamie bestimmt. »Mrs. Fraser ist eine Frau von Ehre.« Er hustete und zog sich das Plaid höher über die Schultern; die Nacht war nicht kalt, doch es wehte ein Luftzug vom Hügel herab. »Hilft der Tee denn etwas?«
Willie machte ein verständnisloses Gesicht und blickte dann auf den Becher in seiner Hand.
»Oh! Ja. Ja, danke; er ist sehr gut. Mir geht es schon viel besser. Vielleicht waren es doch nicht die getrockneten Äpfel.«
»Vielleicht nicht«, stimmte Jamie zu und senkte den Kopf, um sein Lächeln zu verbergen. »Aber ich glaube, daß wir morgen etwas Besseres zum Abendessen bekommen; wenn wir Glück haben, gibt es Forelle.«
Der Ablenkungsversuch gelang; Willies Kopf zuckte von seinem Becher hoch, und in seinem Gesicht lag großes Interesse.
»Forelle? Wir können angeln?«
»Habt Ihr in England schon viel geangelt? Ich kann mir nicht vorstellen, daß man die Forellengewässer mit diesen hier vergleichen kann, aber ich weiß, daß man im Lake District gut angeln kann - sagt jedenfalls Euer Vater.«
Er hielt den Atem an. Warum in Gottes Namen hatte er das gefragt? Er selbst hatte mit dem fünfjährigen Willie auf dem See in der Nähe von Ellesmere Rotforellen geangelt, als er dort seine Zwangsarbeit ableistete. Wollte er, daß sich der Junge daran erinnerte?
»Oh… ja. Sicher, es ist ganz nett auf den Seen - aber ganz anders als das .« Willie schwenkte den Arm in die ungefähre Richtung des Baches. Die Falten im Gesicht des Jungen hatten sich geglättet, und
es war wieder ein leichtes, lebendiges Flackern in seine Augen zurückgekehrt. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es ist ganz anders als England.«
»Das stimmt«, pflichtete Jamie ihm belustigt bei. »Aber werdet Ihr England nicht vermissen?«
Willie dachte einen Augenblick lang darüber nach, während er den restlichen Tee schlürfte.
»Ich glaube nicht«, sagte er und schüttelte entschlossen den Kopf. »Manchmal vermisse ich Großmama und meine Pferde, aber das ist alles. Da hatte ich nur Tutoren und Tanzstunden und Latein und Griechisch - igitt!« Er zog die Nase kraus, und Jamie lachte.
»Dann hat Euch das Tanzen also keinen Spaß gemacht?«
»Nein. Das muß man ja mit Mädchen machen.« Er warf Jamie einen Blick unter seinen feinen, dunklen Augenbrauen hervor zu. »Mögt Ihr Musik, Mr. Fraser?«
»Nein«, sagte Jamie lächelnd. »Aber ich mag Mädchen.« Und die Mädchen würden diesen Jungen auch mögen, dachte er, und nahm unauffällig Notiz von dessen breiten Schultern, seinen langen Schenkeln und den langen, dunklen Wimpern, die seine schönen blauen Augen verbargen.
»Ja. Mrs. Fraser ist aber auch sehr hübsch«, sagte der Graf höflich. Sein Mundwinkel krümmte sich plötzlich. »Obwohl sie schon komisch ausgesehen hat mit dem Schlamm im Gesicht.«
»Das glaube ich. Wollt Ihr noch eine Tasse, Milord?«
Claire hatte gesagt, die Mixtur sei beruhigend; sie schien ihre
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