Der Ruf Der Trommel
besonders interessierten, und betrachtete sie eingehend auf eine Weise, die ihr wahrscheinlich extrem unhöflich vorgekommen wäre, hätten sich nicht diverse andere potentielle Arbeitgeber genauso verhalten.
»Pastetchen! Heiße Pastetchen!« Ein schrilles Kreischen durchschnitt den tosenden Lärm in der Halle, und als Brianna sich umdrehte, sah sie eine alte Frau, die sich unerschütterlich mit den Ellbogen ihren Weg bahnte. Ein dampfendes Tablett hing ihr um den Hals, und sie hatte einen Holzschieber in der Hand.
Der himmlische Duft von frischem, heißem Teig und würzigem Fleisch durchschnitt die anderen, beißenden Gerüche in der Halle. Er war genauso auffällig wie die Rufe der Frau. Das Frühstück war
schon lange her, und Brianna grub in ihrer Tasche nach, während ihr das Wasser im Mund zusammenlief.
Ian hatte ihren Geldbeutel mitgenommen, um ihre Überfahrt zu bezahlen, doch sie hatte ein paar lose Münzen; sie hielt eine davon hoch und schwenkte sie hin und her. Die Pastetenverkäuferin sah das Silber aufblitzen, wechselte unverzüglich den Kurs und lavierte durch die schnatternde Menge. Vor Brianna drehte sie bei und streckte die Hand in die Höhe, um die Münze zu ergattern.
»Himmel hilf, eine Riesin!« sagte sie und entblößte grinsend ihre kräftigen, gelben Zähne, während sie den Kopf zurücklegte, um Brianna anzusehen. »Am besten nimmste zwei, Kleine. Eine reicht niemals für’n langes Luder wie dich!«
Köpfe wandten sich um, und Gesichter grinsten zu ihr hoch. Sie überragte die meisten Männer in ihrer Nähe um einen halben Kopf. Etwas verlegen über die Aufmerksamkeit, die sie erregte, warf Brianna dem nächstbesten Übeltäter einen kalten Blick zu. Dies schien den jungen Mann extrem zu amüsieren; er stolperte rückwärts gegen seinen Freund, faßte sich an die Brust und tat so, als sei er überwältigt.
»Mein Gott!« sagte er. »Sie hat mich angesehen! Mir bleibt das Herz stehen!«
»Och, tu dich weg«, spottete sein Freund und zog ihn hoch. »Sie hat mich angesehen; wer würde denn dich ansehen, wenn es auch anders geht?«
»Gar nicht wahr«, protestierte sein Freund. »Ich war’s - stimmt’s nicht, Süße?« Er schmachtete sie mit Kuhaugen an und sah dabei so lächerlich aus, daß sie gemeinsam mit der umstehenden Menge lachte.
»Und was würd’ste mit ihr anfangen, wenn du sie hättest, häh? Sie würde Kleinholz aus dir machen. Und jetzt ab mit dir, Junge«, sagte die Pastetenverkäuferin und knallte dem jungen Mann beiläufig ihren Holzschieber über den Hintern. »Vielleicht hast du ja nichts zu tun, aber ich schon. Und die junge Frau verhungert noch, wenn du nicht aufhörst, dich zum Narren zu machen, und sie etwas zu essen kaufen läßt, aye?«
»Sie sieht mir ganz wohlgenährt aus, Oma.« Briannas Verehrer ignorierte sowohl die Beleidigung als auch die Ermahnung und begaffte sie schamlos. »Und was den Rest angeht - hol mir’ne Leiter, Bobby, ich hab’ keine Höhenangst.«
Unter tobendem Gelächter wurde der junge Mann von seinen Freunden fortgezerrt. Er machte laute Kußgeräusche über seine Schulter
hinweg, während er widerstrebend von dannen zog. Brianna nahm ihr Restgeld in Kupfermünzen entgegen und zog sich in eine Ecke zurück, um ihre beiden heißen Rindfleischpasteten zu essen. Ihr Gesicht war immer noch rot vom Lachen und vor Befangenheit.
Seit sie eine schlaksige Siebtklässlerin gewesen war, die all ihre Klassenkameraden überragte, war sie sich ihrer Größe nicht mehr so bewußt gewesen. Bei ihren hochgewachsenen Vettern hatte sie sich wohlgefühlt, doch es stimmte; hier stach sie hervor wie ein verletzter Daumen, obwohl sie Jennys Drängen nachgegeben und ihr Männergewand gegen ein Kleid ihrer Cousine Janet eingetauscht hatte, das hastig geändert und am Saum ausgelassen worden war.
Ihr Gefühl der Befangenheit wurde dadurch nicht besser, daß es zu dem Kleid keine Unterwäsche gab außer dem langen Hemd. Niemand schien etwas dabei zu finden, doch sie war sich des ungewohnten Gefühls der Luftigkeit in ihren unteren Gefilden genauso bewußt wie des merkwürdigen Gefühls, das ihre nackten Oberschenkel erzeugten, wenn sie beim Gehen aneinanderstreiften, denn ihre Seidenstrümpfe endeten knapp über dem Knie in einem Strumpfband.
Ihre Verlegenheit und das luftige Gefühl waren vergessen, als sie in die erste heiße Pastete biß. Es war ein dickes, halbmondförmiges, heißes Küchlein, gefüllt mit Hacksteak und Talg und mit Zwiebeln gewürzt.
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