Der Ruf Der Trommel
und Schultern hinein.
Die Kühle traf sie unvermittelt; sie spürte, wie die Feuchtigkeit auf ihren Wangen kondensierte. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch es sickerte genug Licht an ihren Schultern vorbei in die Höhle, daß sie etwas sehen konnte.
Sie war vielleicht zweieinhalb Meter lang und zwei Meter breit, eine halbdunkle Höhlung, deren Boden aus Erde bestand und deren Decke so niedrig war, daß man nur in der Nähe des Eingangs aufrecht stehen konnte. Wenn man sich längere Zeit darin aufhielt, mußte man sich vorkommen, als wäre man eingemauert.
Sie zog schnell den Kopf heraus und atmete die frische Frühlingsluft in tiefen Zügen ein. Ihr Herz klopfte heftig.
Sieben Jahre! Sieben Jahre hier gelebt zu haben, in Schmutz und Kälte und nagendem Hunger. Ich würde es keine sieben Tage aushalten, dachte sie.
Wirklich nicht? fragte ein anderer Teil ihres Verstandes. Und da war es wieder, das winzige Klicken des Wiedererkennens, das sie verspürt hatte, als sie Ellens Porträt betrachtet und dabei das Gefühl hatte, daß sich ihre Finger um einen unsichtbaren Pinsel schlossen.
Sie drehte sich langsam um und setzte sich mit dem Rücken zur Höhle hin. Es war sehr still hier auf dem Berghang, doch still in der Art der Berge und Wälder, eine Stille, die alles andere als lautlos war, sondern sich aus permanenten Einzelgeräuschen zusammensetzte.
In dem Ginsterbusch neben ihr erklang das leise Summen der Bienen, die die gelben Blüten abarbeiteten und mit Pollen bestäubt waren. Weit unten rauschte der Bach, ein tiefer Ton, der wie ein Echo
das Rauschen des Windes aufgriff, der hier oben an die Blätter rührte, in den Zweigen klapperte und über die schroffen Felsen hinwegseufzte.
Sie saß still und lauschte und glaubte zu wissen, was Jamie Fraser hier gefunden hatte.
Er war hier allein, aber nicht einsam gewesen. Er hatte nicht gelitten, sondern durchgehalten, eine grimmige Verwandtschaft mit den Felsen und dem Himmel entdeckt. Und einen rauhen Frieden gefunden, der stärker war als die körperlichen Unannehmlichkeiten, und statt dessen die Wunden der Seele heilte.
Möglicherweise hatte er die Höhle nicht als Kerker, sondern als Zufluchtsort empfunden; aus ihren Felsen Kraft gezogen wie Antaeus aus der Erde. Dieser Ort war genauso ein Teil von ihm, der hier geboren war, wie er Teil von ihr war, die ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Ian saß immer noch geduldig unten; er hatte die Hände über den Knien gefaltet und blickte über das Tal. Sie streckte die Hand aus und brach vorsichtig einen Ginsterzweig ab, wobei sie sich vor den Stacheln in acht nahm. Sie legte ihn in den Höhleneingang, beschwerte ihn mit einem kleinen Stein und machte sich dann vorsichtig auf den Rückweg nach unten.
Ian mußte gehört haben, wie sie näher kam, doch er wandte sich nicht um. Sie setzte sich neben ihn.
»Ist es jetzt ungefährlich für dich, das anzuziehen?« fragte sie und wies kopfnickend auf seinen Kilt.
»Oh, aye«, sagte er. Er blickte nach unten und rieb mit seinen Fingern über den weichen, abgetragenen Wollstoff. »Es ist schon ein paar Jahre her, seit die Soldaten das letzte Mal hier waren. Was gibt es hier schließlich noch?« Er deutete auf das Tal unter ihnen.
»Sie haben alles mitgenommen, was sie an Wertvollem finden konnten. Was sie nicht tragen konnten, haben sie zerstört. Es ist nicht viel übrig außer dem Land, oder? Und ich glaube nicht, daß sie sich dafür besonders interessiert haben.« Sie konnte sehen, daß ihm irgend etwas Sorgen bereitete; sein Gesicht konnte die Gefühle seines Besitzers nicht verbergen.
Sie beobachtete ihn einen Augenblick lang und sagte dann: »Du bist immer noch hier. Du und Jenny.«
Seine Hand kam zur Ruhe und legte sich auf das Plaid. Er hatte die Augenlider gesenkt und sein gutmütiges, verwittertes Gesicht der Sonne zugewandt.
»Aye, das stimmt«, sagte er schließlich. Er öffnete die Augen wieder
und sah sie an. »Und du auch. Wir haben uns letzte Nacht ein bißchen unterhalten, deine Tante und ich. Wenn du Jamie siehst und ihr euch gut versteht - dann frag ihn doch bitte, was wir tun sollen?«
»Tun? In welcher Hinsicht?«
»Mit Lallybroch.« Er schwenkte den Arm und wies auf das Tal und das Haus. Er wandte sich ihr mit einem sorgenvollen Blick zu.
»Du weißt vielleicht - vielleicht auch nicht -,daß dein Vater vor Culloden einen Schenkungsbrief geschrieben hat, um das Gut auf den kleinen Jamie zu
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