Der Ruf Der Trommel
gesagt, daß ich nicht fürs Land gemacht war.«
Er hielt die Zigarre hoch und klopfte sanft mit dem Finger darauf, um die Asche zu lösen.
»Übrigens«, sagte er, »haben sie mir meinen Lohn gegeben; als ich nachsah, war der Schilling in meiner Tasche. Ah, sie waren schon ehrliche Männer.«
Roger lehnte sich an die Reling und umklammerte das Holz, das einzig Stabile in einer Welt, die weich und nebulös geworden war.
«Und seid Ihr wieder an Land gegangen?« fragte er, und seine eigene Stimme klang übernatürlich ruhig, als gehörte sie jemand anderem.
»Ihr meint, habe ich sie gefunden?« Bonnet drehte sich um und lehnte sich an die Reling, so daß er Roger halb zugewandt war. »Oh, ja. Jahre später. Einen nach dem anderen. Aber ich habe sie alle gefunden.« Er öffnete die Hand, in der er die Münze hielt, hielt sie nachdenklich vor sich und drehte sie hin und her, so daß das Silber im Licht der Laterne schimmerte.
»Kopf, und man lebt, Zahl, und man stirbt. Eine gerechte Chance, meint Ihr nicht, MacKenzie?«
»Für sie?«
»Für Euch.«
Die leise, irische Stimme war so teilnahmslos, als stellte sie Beobachtungen über das Wetter an.
Wie im Traum spürte Roger, wie sich das Gewicht des Schillings erneut in seine Hände senkte. Er hörte, wie das Wasser an der Bordwand saugte und zischte, hörte die Wale blasen - und hörte die Saug-und Zischgeräusche, wenn Bonnet an seiner Zigarre zog. Sieben Wale einen Cirein Croin.
»Eine gerechte Chance«, sagte Bonnet. »Einmal habt Ihr Glück gehabt, MacKenzie. Mal sehen, ob Danu Euch noch einmal beisteht - oder ob es diesmal der Seelenfresser ist?«
Der Nebel hatte sich auf das Deck gesenkt. Es war nichts zu sehen außer Bonnets Zigarre, ein brennender Zyklop im Dunst. Der Mann hätte wirklich ein Teufel sein können, ein Auge vor dem Elend der Menschen verschlossen, ein Auge offen für die Dunkelheit. Und Roger stand ihm ausgeliefert da, und sein Schicksal leuchtete silbern in seiner Hand.
»Es ist mein Leben; ich darf es mir aussuchen«, sagte er und war überrascht, wie ruhig und stetig seine Stimme klang. »Zahl - Zahl ist für mich.« Er warf die Münze, fing sie auf, schlug die eine Hand fest auf den Rücken der anderen und umschloß die Münze und ihr unbekanntes Urteil.
Er schloß die Augen und dachte ganz kurz an Brianna. Tut mir leid, sagte er schweigend zu ihr und hob die Hand.
Ein warmer Atemhauch lief über seine Haut, und dann spürte er eine kühle Stelle auf seinem Handrücken, als die Münze entfernt wurde, doch er bewegte sich nicht, öffnete die Augen nicht.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis er begriff, daß er allein war.
NEUNTER TEIL
Passionnément
40
Das Jungfrauenopfer
Wilmington, in der Kolonie North Carolina, 1. September 1769
Dies war der dritte Anfall von Lizzies mysteriöser Krankheit. Nach dem ersten schlimmen Fieberanfall hatte es so ausgesehen, als erholte sie sich, und nachdem sie einen Tag lang Kräfte gesammelt hatte, hatte sie darauf bestanden, reisefähig zu sein. Doch sie waren von Charleston nur einen Tagesritt weit nach Norden gelangt, als das Fieber erneut zuschlug.
Brianna hatte den Pferden die Vorderbeine gefesselt und hastig ein Lager an einem kleinen Bach aufgeschlagen, dann war sie während der ganzen Nacht ein ums andere Mal zum Wasser gegangen und im Dunkeln ein schlammiges Ufer hinauf- und hinuntergeklettert, um in einem kleinen Topf Wasser zu holen, das sie Lizzie in die Kehle und über den dampfenden Körper tropfen ließ. Sie hatte keine Angst vor dem dunklen Wald oder vor wilden Tieren, doch der Gedanke, daß Lizzie in der Wildnis sterben könnte, meilenweit von jeder Hilfe entfernt, entsetzte sie so sehr, daß sie sich vornahm, nach Charleston zurückzukehren, sobald Lizzie wieder auf einem Pferd sitzen konnte.
Doch am Morgen war das Fieber gesunken, und obwohl Lizzie schwach und bleich war, hatte sie reiten können. Brianna hatte gezögert, sich aber schließlich dafür entschieden, weiter nach Wilmington zu drängen, anstatt zurückzukehren. Zu dem Drang, der sie bis hier getrieben hatte, gesellte sich jetzt ein weiterer Ansporn; sie mußte ihre Mutter finden, um Lizzies willen genauso wie um ihrer selbst willen.
Brianna, die meistens in der letzten Reihe ihrer Klassenfotos gestanden hatte, hatte ihre Körpergröße nie besonders geschätzt, doch als sie älter wurde, hatte sie die Vorteile ihrer Größe und Kraft zu spüren begonnen. Und je mehr Zeit sie in dieser elenden Gegend
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