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Der Ruf Der Walkueren

Der Ruf Der Walkueren

Titel: Der Ruf Der Walkueren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Kunz
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der Tür und war sich weder der Tränen auf ihren Wangen, noch des Blutes auf ihren zerbissenen Lippen bewusst. Ihre Kleider waren zerrissen, die Haare filzig, ihre Augen verquollen. Die ganze Nacht über hatte sie keine Ruhe gefunden, und in der Frühe war sie aufgestanden und blind umhergeirrt, aber daran erinnerte sie sich nicht mehr.
    Aldrian wich zurück. Seine Mutter hatte oft Augenblicke, in denen die Dunkelheit sie umfing, in denen ihre Seele fortging, in denen sie mit jemandem sprach, der nicht da war. Diese Augenblicke ängstigten ihn, weil dann eine fremde Frau den Platz seiner Mutter einnahm. Doch das Monstrum, das heute hinter ihren Augen lauerte, war so entsetzlich, dass ihm selbst das Wimmern im Hals steckenblieb. Wie ein Fraßdämon kam sie auf ihn zu, umschlang ihn und erstickte ihn mit Küssen.
    Grimhild klammerte sich an ihren Sohn und vergrub ihr Gesicht in seinen Haaren. »Du bist der Einzige, der zu mir hält«, schluchzte sie. »Nur du verstehst mich.«
    »Was hast du, Mutter?«, fragte Aldrian verstört. »Warum bist du so unglücklich?«
    »Hagen ist da, der Neiding, der Schwarzalbensohn, der mir mehr Schmerz zugefügt hat als ein Mensch ertragen kann. Er sitzt unter den Gästen und verhöhnt mich, und Attala nimmt ihn vor mir in Schutz.«
    Hagen, das war der Mann mit der Augenklappe. Er weckte Furcht und Faszination zugleich in Aldrian. Etwas Düsteres ging von ihm aus, aber auch große Kraft.
    Ein Schluchzen entstieg Grimhilds Brust. »Sigfrid!«, schrie sie und reckte ihre Arme empor zu jemandem, den nur sie sehen konnte.
    Hilflos schlang Aldrian die Arme um seine Mutter. Er war stolz, dass sie seinen Trost suchte, dass sie ihm diese Dinge anvertraute, aber die Bürde war so groß, so groß!
    Überraschend stieß sie ihn von sich, kauerte sich in eine Ecke, kaute an ihren Fingernägeln und versank in ihrer eigenen Welt. Aldrian fürchtete sich vor dieser Welt, denn sie besaß Regeln, die er nicht begriff. Wenn sie dort war, erschien ihm seine Mutter fremder und Furcht einflößender als ein Nök .
    »Wenn nur einer den Mut aufbrächte, sich ihm entgegenzustellen!«, klagte sie. »Aber sie sind alle feige. Sie haben Angst vor einem Halbalben.«
    Zaghaft berührte Aldrian ihre Hand. »Ich werde dir beistehen, Mutter«, sagte er. Sie blinzelte ihn an, und er wusste, sie erkannte ihn nicht. Manchmal geschah das, und in solchen Augenblicken hatte er immer das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen.
    Grimhild stand auf. Schwankend hielt sie sich an der Wand fest, um ihr Gleichgewicht zu finden. Dann lachte sie grundlos, ein lautes, überkippendes Lachen, das ebenso unvermittelt wieder abbrach. Irgendjemand musste ihr beistehen. Irung! Ja, Irung war ihr ergeben! Vielleicht könnte er   … Sie taumelte davon.
    Verletzt sah Aldrian ihr nach. Sie hatte ihn einfach vergessen, wie so oft. Hatte vergessen, dass es ihn gab. Ihre Stimmungen waren so wechselhaft wie das Wetter. Mal überhäufte sie ihn mit Zärtlichkeiten, mal zeigte sie ihm die kalte Schulter. Und manchmal hatte sie Wutausbrüche. Er verstand seine Mutter nicht. Aber Hagen war die Ursache für ihren Schmerz, das verstand er jetzt. An dieser Gewissheit hielt er fest. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, einen Lichtstrahl im Dunkel des Unbegreiflichen zu sehen. Wenn Hagen tot wäre, dann würde seine Mutter gesund werden! Und wenn er, Aldrian, derjenige wäre, der den Mut aufbrachte, sich ihrem Todfeind entgegenzustellen, während alle anderen sie im Stich ließen, dann würde sie seine Liebe zu ihr erkennen und ihn nicht länger von sich stoßen!
     
    Grimhild traf ihren Vetter vor der Burg. »Irung«, rief sie, »du bist von meinem Blut! Hilf mir! Steh mir bei, wo Freund und Feind sich von mir abwenden und mich der Schande ausliefern! Ich will nicht länger leiden, dass Hagen mich in meinem eigenen Heim verhöhnt. Sie fürchten sich vor ihm, vor seiner albischen Hälfte, sie schwatzen von Gastrecht und Sippenehre, als hätte er sich je um solche Dinge gekümmert. Ungerächt liegt Sigfrid, und sein Mörder lacht uns in Gesicht.«
    Irung brannte darauf, ihr seine Loyalität zu beweisen. Die stille Leidenschaft zu ihr, die er in seiner Brust verschloss und die bisweilen aufloderte, um vergebens wieder niederzubrennen, war niemals ganz erloschen. Grimhild hatte ihm die Stelle ihrer Brüder in ihrem Herzen gegeben, aber so lange mehr zu gewinnen war, gab er sich nicht mit Erreichtem zufrieden. »Wenn es dein Wunsch ist, fordere

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