Der Ruf Der Walkueren
und ergriff zwei Armknochen. Den einen umfasste er mit den verbliebenen Fingern seiner rechten Hand, den anderen nahm er in die linke. Dann erhob er sich, schloss die Augen und fing an, den Knochen in der linken Hand auf den anderen zu schlagen. Er folgte dem Takt seines Herzens, langsam, gleichmäßig, dann fügte er jedes zweite Mal einen Zwischenschlag ein und schuf so einen beschwörenden, fast hypnotischen Rhythmus, der ihn nach und nach in einen Zustand versetzte, in dem die Realität der Schlangengrube keine Bedeutung mehr besaß. Erst leise, dann lauter werdend summte er einen Bass dazu.
Bestürzt traten die Zuschauer vom Grubenrand zurück, als die schaurige Musik emporstieg. Osid wandte sich wortlos ab und verließ den Ort; das war mehr, als er ertragen konnte. Dann fing Gunter auch noch an zu singen:
»Auf steigt mein Lied
zu meinen Ahnen
– freie Männer
sie allesamt.
Gunter singt hier,
Aldrians Sohn,
aus der Niflungen Sippe –
dies mein Geschlecht,
dies wisst und bewahret!«
Benommen hielt er inne. Das Gift wirkte, er konnte spüren, wie es sich in seinem Körper ausbreitete. Er schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dann nahm er den Knochenschlag wieder auf und erhob seine Stimme erneut:
»Auf steigt mein Lied
zur Wohnstatt der Götter.
Schon hör’ ich deutlich
Heimdalls Horn.
Mein Met in Walhall
ist schon gebraut.«
Dieses Mal war der Anfall schlimmer. Sein Herz raste, er bekam kaum noch Luft, und ihm war übel. Kalter Schweiß lief ihm aus allen Poren, obwohl seine Stirn vor Hitze glühte. Die Bissstellen waren auf das Doppelte angeschwollen, seine Haut hatte sich blau verfärbt. Mit dem Gift griff die Angst nach seinem Herzen. Doch Gunter packte die Knochen fester und schlug weiter seinen grausigen Takt.
»Nicht länger mich dürstet
nach Ruhm und Ehre,
nach Liebe und Lust
und des Lebens Ekstase.
Klaglos will ich
dem Rufe folgen,
dem Ruf der Walküren,
dem Ruf nach Walhall.«
Die Knochen entfielen seinen Händen. Unter Krämpfen brach er zusammen und wand sich zuckend auf dem Boden der Grube. Die Schlangen zogen sich zischend zurück und sahen dem Todeskampf mit starren Augen zu. Gunter erbrach sich, wälzte sich in dem Erbrochenen, rang nach Luft. Doch er gab sich nicht geschlagen. Unter Aufbietung aller Kräfte setzte er sein Lied fort.
»Auf steigt mein Lied,
wieder und wieder.
Auf steigt es, auf,
trotzend dem … Giftbiss …«
Ein weiterer Anfall, noch einmal musste er sich übergeben. Seine Finger krallten sich in die Steine, bis die Nägel brachen. Ein letztes Mal bäumte er sich auf, dann erschlaffte er, erstickt an seinem Erbrochenen.
Die folgende Ruhe besänftigte die aufgescheuchten Schlangen; gleichmütig glitten sie über den erkaltenden Körper hinweg.
2
Gestern noch war Gislher ein glücklicher junger Mann gewesen mit einer Braut und Träumen und einer hoffnungsvollen Zukunft. Binnen eines Tages hatte sich sein Leben in Asche verwandelt. Er lag auf dem Boden, starrte in den nächtlichen Himmel und wusste, er war ein Verdammter.
Es war still, abgesehen vom Stöhnen verletzter Krieger und dem Prasseln der Flammen an Gartentor und Durchbruch, wo gewaltige Scheiterhaufen aus zerschlagenen Tischen und Bänken errichtet worden waren, um vor einem nächtlichen Überraschungsangriff sicher zu sein. Draußen brannten ähnliche Feuer. Während Hunen und Friesen ihre Gefallenen geborgen und fortgeschafft hatten, waren die Toten innerhalb des Gartens zu grausigen Haufen entlang der Mauer aufgeschichtet worden.
Trotz alledem gelang es einigen Kriegern zu schlafen. Gislher bewunderte Männer, die es schafften, den Gedanken an die Gefahr derart beiseite zu schieben. Er hatte das nie vermocht. Um wie viel weniger jetzt, wo er Dietlinds Vater erschlagen hatte! Was hatte Rodinger dazu bewogen, ihn auszuwählen, um ihn aus seinem Zwiespalt zu erlösen? War es ein Beweis des Vertrauens oder eine hinterlistige Rache, um so jede künftige Verbindung mit Dietlind unmöglich zu machen? Narreteien! Wie konnte er jetzt noch an eine Ehe denken? Er konnte von Glück reden, wenn er den nächsten Abend erlebte. Gislher griff nach dem Amulett um seinen Hals und versenkte seinen Blick in die Sonnenrune. Dietlind schien ihm begehrenswerter denn je. Er hätte alles gegeben für die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben mit ihr.
Er erinnerte sich an all das Gute, das ihr Vater ihm und seiner Sippe erwiesen hatte. Doch woran er am häufigsten denken
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