Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
Zeichnungen anstelle von Fotos bestanden hatte, konnte er verdammt noch mal warten! Kurz darauf schlug sein Messer ungeduldig gegen die Sauerstoffflaschen. Sie verfluchte ihn und verstaute Tafel und Stift.
Typisch Mann, dachte sie. Immer musste alles jetzt und sofort passieren. Wenn sie später auftauchten, würde sie ihm deutlich sagen, was sie von seiner Ungeduld hielt. Und dann …
Ihre Gedanken erstarrten, genau wie ihre plötzlich taub gewordenen Finger, als ihr klar wurde, was er da gerade untersuchte.
Die Kanone war mit einer blassgrünen Korrosionsschicht und kleinen Lebewesen überzogen. Tate griff nach ihrer Kamera und machte ein Bild mit Matthew vor der Mündung. Aber das allein machte den Fund noch nicht real. Erst als sie
das Metall selbst berührt und das harte Eisen unter ihren tastenden Fingern gespürt hatte, wurde er für sie wirklich.
Ihr Atem explodierte in tausend Blasen, als Matthew nach ihr griff und sie herumwirbelte. Tate rechnete schon mit einer Umarmung, aber er dirigierte sie nur in Richtung weiterer Objekte.
Noch mehr Kanonen. Das war es, was das Magnetometer angezeigt hatte. Während Matthew sie weiterzog, zählte sie erst vier, dann sechs und schließlich acht Kanonen, die im Halbkreis auf dem Sandboden verteilt lagen. Ihr Herz schien in ihrer Kehle zu pochen. Sie wusste, dass Kanonen häufig im wahrsten Sinne des Wortes auf ein Wrack hinwiesen – und tatsächlich stießen sie fast dreißig Meter südlich auf die Isabella, zerschmettert, übel zugerichtet und unter Sand begraben.
Sie ist einmal ein stolzes Schiff gewesen, dachte Tate, während sie mit der Hand in den Sand griff und spürte, wie das wurmzerfressene Holz unter dem Druck nachgab. So majestätisch wie die Königin, nach der sie benannt worden war. Sie war seit langem verloren, ein Opfer der See, die Teil ihrer Geschichte geworden war.
Für Tate bestand keinerlei Zweifel daran, dass es die Isabella war, die sie über einen Bereich von mehr als dreißig Metern auf dem Meeresgrund verteilt liegen sah. Unter Sand begraben und mit Algen und Meerestieren überwachsen, hatte sie auf sie gewartet. Ihre Hand blieb erstaunlich ruhig, als sie wieder mit ihrer Zeichnung begann. Matthew fächerte bereits eifrig Sand beiseite.
Schließlich gingen Tate die Tafeln aus, ihre Graphitstifte waren zu Stummeln geschrumpft, und sie hatte sämtliche Aufnahmen verknipst. Dabei hatte sich ihr Herzschlag immer noch nicht beruhigt.
Zu der einen großen Chance im Leben, dachte sie mit schmerzender Kehle, ist nun eine zweite hinzugekommen.
Als Matthew wieder zu ihr zurückkam, freute sie sich,
dass er daran gedacht hatte, ihr etwas mitzubringen. Er gab ihr zu verstehen, dass sie die Augen schließen und ihre Hand ausstrecken sollte. Zunächst runzelte sie die Stirn, gehorchte jedoch und schlug die Augen wieder auf, als sie eine dicke Scheibe in ihrer Hand spürte.
Sie kam ihr schwer vor, weil sie eine Münze oder einen Knopf erwartet hatte. Die runde Scheibe wog ihrer Schätzung nach über zwei Pfund, und ihre Augen weiteten sich, als sie den unverkennbaren und immer wieder faszinierenden Glanz echten Goldes erkannte.
Matthew zwinkerte ihr zu und signalisierte ihr, das Gold in ihren Korb zu legen, dann zeigte er nach oben. Tate wollte protestieren. Wie konnten sie schon wieder abbrechen, wo sie doch gerade erst begonnen hatten?
Aber die anderen warteten natürlich. Als ihr auffiel, dass sie alles andere vergessen hatte, stiegen Schuldgefühle in ihr auf. Matthews Hand schloss sich um ihre, während sie nach oben schwammen.
»Jetzt müsstest du mir eigentlich um den Hals fallen«, erklärte er ihr kurz darauf mit einem bösen Lachen in den Augen, das mehr an Triumph als an Humor erinnerte. »Genau wie vor acht Jahren.«
»Inzwischen bin ich viel zu abgeklärt.« Aber sie lachte und tat genau das, was er sich erhofft hatte, indem sie die Arme um ihn schlang. »Sie ist es, Matthew, das weiß ich genau!«
»Ja, sie ist es.« Er hatte es gespürt, gewusst, als ob er die Isabella so gesehen hätte wie in seinem Traum, unversehrt und mit bunten Flaggen geschmückt. »Jetzt gehört sie uns.« Er hatte gerade noch Zeit, Tate einen schnellen Kuss auf den Mund zu drücken, bevor sie weiterschwammen. »Wir müssen es den anderen sagen. Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man mit dem Sauger arbeitet?«
Ihr Lippen prickelten immer noch von seinem Kuss. »Ich habe überhaupt nichts vergessen.«
Die Routine war dieselbe wie damals.
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