Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
die Tasse ab und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Mein Held!«
»Es war nicht wie bei Dornröschen. Mund-zu-Mund-Beatmung und eine Herz-Lungen-Massage sind alles andere als romantisch.«
»Unter den gegebenen Umständen aber auf jeden Fall angebrachter als ein Strauß Lilien.« Sie küsste ihn sanft. »Matthew, eins muss ich dir noch sagen. Ich habe dich nicht gerufen.« Bevor er protestieren konnte, schüttelte sie den Kopf. »Ich habe nicht gerufen. Aber als ich fürchtete, zu ertrinken, habe ich im Geiste ständig deinen Namen wiederholt.« Sie legte ihre Wange an seine und seufzte. »Anscheinend hast du mich gehört.«
Elftes Kapitel
D urch die Gitterstäbe der kleinen Zelle beobachtete Matthew Silas VanDyke. Hier saß also der Mann, der ihn sein Leben lang verfolgt und seinen Vater getötet hatte, der ihn ermorden wollte und die Frau, die er liebte, beinahe umgebracht hatte.
Er war ein mächtiger Mann gewesen, mit großem finanziellem, gesellschaftlichem und politischem Einfluss.
Jetzt war er eingesperrt wie ein Tier im Käfig.
Die Wärter hatten ihm ein Baumwollhemd und Hosen gegeben, beides ausgeblichen und viel zu weit. Er trug keinen Gürtel, keine Schnürsenkel und mit Sicherheit keinen Seidenschlips mit Monogramm.
Dennoch saß er auf der schmalen Pritsche wie auf einem eigens für ihn angefertigten Sessel, als ob die enge Zelle sein luxuriös eingerichtetes Büro wäre. Und als ob er immer noch alles dirigieren könnte.
Allerdings fand Matthew, dass er irgendwie geschrumpft war. Sein Körper wirkte in der viel zu großen Gefängniskleidung irgendwie zerbrechlich. Seine Gesichtszüge waren schärfer, die Knochen schienen gegen die Haut zu drücken, als ob das Fleisch über Nacht weggeschmolzen wäre.
Er war unrasiert, sein Haar strähnig von Seewasser und Schweiß. Die Schrammen auf Gesicht und Händen erinnerten Matthew an Tates verzweifelten Kampf um ihr Leben.
Aber er zwang sich dazu, stehen zu bleiben und ihn zu betrachten.
Und er sah, dass die Würde und die Illusion von Macht, auf die VanDyke immer so viel Wert gelegt hatte, ihn wie
eine dünne Glasschicht umgaben. Auch der Hass war immer noch da, heiß und lebendig brannte er in seinen Augen. Er fragte sich, ob dieser Hass ausreichen würde, um diesen Mann am Leben zu erhalten, ob er in den Jahren, die er eingesperrt sein würde, davon zehren könnte.
Er hoffte es stark.
»Wie fühlt man sich«, fragte Matthew laut, »wenn man alles verloren hat?«
»Glauben Sie, das hier kann mich aufhalten?« VanDykes Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Glauben Sie, ich werde es Ihnen überlassen?«
»Ich bin hergekommen, um Ihnen zu sagen, dass Sie uns jetzt nichts mehr anhaben können.«
»Sind Sie sich da so sicher?« VanDykes Augen flackerten. »Ich hätte sie töten sollen. Ich hätte ein Loch in Tates Eingeweide schießen und Sie bei ihrem Sterben zusehen lassen sollen.«
Matthew sprang zum Gitter und hätte beinahe daran gerüttelt, aber der befriedigte Glanz in VanDykes Augen hielt ihn zurück. Nein, so nicht, sagte er sich. Nicht auf diese Art. »Sie hat Sie besiegt. Sie ist es, die den großen VanDyke schließlich zu Fall gebracht hat. Sie haben das Feuer im Wasser gesehen, nicht wahr? Sie haben gesehen, wie sie Sie beobachtet hat«, fuhr er fort und erinnerte sich an die Szene, die Tate ihm geschildert hatte. »In dem unwirklichen Licht sah sie beängstigend schön aus, und Sie haben geschrien wie ein Kind in einem Albtraum.«
Die rote Farbe, die VanDykes Wangen überzogen hatte, verschwand. Seine Haut wurde fahl. »Ich habe nichts gesehen. Nichts!«, rief er und sprang von der Pritsche auf. In seinem Kopf verschwammen die erschreckenden Bilder, nahmen neue Formen an und bedrohten seinen Verstand.
Am liebsten hätte er einen lauten Schrei ausgestoßen.
»Sie haben es gesehen.« Matthew wurde wieder ruhig. »Und Sie werden es immer wieder sehen. Jedes Mal, wenn
Sie die Augen schließen. Wie lange können Sie mit dieser Angst leben?«
»Ich fürchte mich nicht.« Sein Magen krampfte sich zusammen. »Sie werden mich nicht im Gefängnis behalten. Ich habe Einfluss. Ich habe Geld.«
»Gar nichts haben Sie«, murmelte Matthew, »außer viel Zeit, sodass Sie darüber nachdenken können, was Sie getan haben und letztendlich doch nicht erreichen konnten.«
»Ich werde freigelassen, und dann werde ich Sie finden.«
»Nein.« Diesmal lächelte Matthew. »Das wird Ihnen nicht gelingen.«
»Ich habe längst gewonnen.« VanDyke kam
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