Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
folgen würde, anstatt mich zu erschießen.«
Matthew zuckte zusammen. »Er hatte eine Waffe?«
»Ja.« Tate spürte, dass ihr Kopf wieder schwer wurde, und bemühte sich um Konzentration. »Er muss sie unter Wasser verloren haben.« Sanft nahm sie Matthews Hand. »Er stand einfach da, direkt hinter mir, Matthew, und bohrte mir eine Pistole in den Rücken. Er muss von Steuerbord gekommen sein, seine Ausrüstung ist vermutlich immer noch dort. Ich konnte nicht nach dir rufen, Matthew, sonst hätte er uns alle umgebracht.«
So gelassen wie möglich erzählte sie ihm, was auf Deck passiert war.
»Ich brauchte gar nicht darüber nachzudenken, mir blieb keine andere Wahl, als das Amulett wegzuschleudern. VanDyke rannte an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und sprang sofort hinterher.«
»Warum zum Teufel bist du ihm gefolgt? Ich war doch da, Rotschopf.«
»Ich weiß. Ich kann es dir nicht erklären. Im ersten Moment dachte ich, jetzt hole ich Matthew, und dann war ich auf einmal im Wasser. Beim Tauchen wurde mir klar, dass es dumm war, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ich habe ihn erwischt, und wir kämpften.«
Sie schloss die Augen und ließ die Szene noch einmal Revue passieren. »Ich weiß noch, dass ich erst mit ihm an der Oberfläche gekämpft habe, dann unter Wasser. Ich erinnere mich, dass ich keine Luft mehr bekam und dass mir klar wurde, dass er mich ertränken wollte. Dann sah ich auf einmal dieses Licht.«
»Himmel …« Matthew fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Willst du mir erzählen, dass du eine todesnahe Erfahrung hattest? Das weiße Licht, der Tunnel und so weiter?«
Überrascht schlug sie die Augen auf. »Das nicht, aber irgendwie seltsam war es schon. Ich muss Halluzinationen gehabt haben. Ich sah ein Leuchten, so deutlich, wie ich dich jetzt sehe. Ich weiß, dass das unmöglich ist, aber ich habe es gesehen. Und er auch.«
»Ich glaube dir«, sagte Matthew leise. »Sprich weiter.«
»Ich habe beobachtet, wie er danach tauchte. Ich selbst schwebte einfach im Wasser.« Zwischen ihren zusammengezogenen Augenbrauen bildete sich eine dünne Falte. »Es war, als ob ich dableiben musste, zusehen musste. Ich kann es nicht erklären.«
»Du machst das sehr gut.«
»Ich habe gewartet und gewartet«, fuhr sie fort. »Er nahm es hoch und hielt es fest, und ich konnte sehen, wie der Rubin durch seine Finger zu bluten begann, so als ob der Stein flüssig geworden wäre. Er sah auf, starrte mich direkt an. Ich blickte in seine Augen. Dann …«
Weil sie zitterte, streichelte Matthew über ihr Haar. Am liebsten hätte er sie an sich gezogen und ihr geraten, alles zu vergessen. Aber er wusste, dass sie die Geschichte zu Ende erzählen musste. »Und dann?«
»Er schrie. Ich habe es gehört. Der Schrei wurde nicht durch das Wasser gedämpft, es war ein schriller, verängstigter Laut. Er sah mich die ganze Zeit an und schrie. Überall um uns herum war Feuer – Licht und Farbe, aber keine Hitze. Ich hatte überhaupt keine Angst. Also nahm ich ihm das Amulett ab und überließ ihn seinem Schicksal.«
Sie lachte nervös. »Ich weiß nicht – danach muss ich wohl das Bewusstsein verloren haben. Vermutlich war ich die ganze Zeit über ohnmächtig, denn so kann es sich unmöglich abgespielt haben.«
»Als ich dich aus dem Wasser zog, trugst du das Amulett um den Hals, Tate.«
»Ich muss es … gefunden haben.«
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Glaubst du das wirklich?«
»Ja, natürlich. Nein«, korrigierte sie sich und griff nach Matthews Hand. »Eigentlich nicht.«
»Jetzt erzähle ich dir, was ich gesehen habe: Als ich dich nach mir rufen hörte, rannte ich an Deck. VanDyke schlug
im Wasser mit den Armen und Beinen um sich und schrie tatsächlich. Ich wusste, dass du ebenfalls dort unten sein musstest, also sprang ich.«
Er hielt es für überflüssig, ihr zu erzählen, dass er nach ihr gesucht hatte, bis ihm fast die Lunge geplatzt war, und er keinen Augenblick lang in Erwägung gezogen hatte, ohne sie aufzutauchen.
»Ich fand dich ganz unten auf dem Grund. Du lagst auf dem Rücken, wie im Schlaf. Und du hast gelächelt. Ich erwartete fast, dass du die Augen öffnen und mich ansehen würdest. Als ich dich herauszog, fiel mir auf, dass deine Atmung ausgesetzt hatte. Es waren nicht mehr als drei, vier Minuten vergangen, seit du nach mir gerufen hattest, aber du hast nicht mehr geatmet.«
»Und du hast mich wiederbelebt?« Sie richtete sich auf, stellte
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