Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
weiterzusuchen. Den Recherchen ihres Vater zufolge waren im Hurrikan vom 11. Juli 1733 vier Schiffe der spanischen Flotte nördlich von Nevis und Saint Kitts gesunken. Zwei von ihnen, die San Cristobal und die Vaca, waren bereits ein paar Jahre zuvor in der Bucht von Dieppe gefunden und
geborgen worden, doch die Santa Marguerite und die Isabella lagen weiterhin unentdeckt und unberührt auf dem Meeresgrund.
Den Schiffsdokumenten und Manifesten war zu entnehmen, dass diese Schiffe weit mehr als bloß eine Ladung Zucker von den Inseln transportiert hatten. Offenbar hatten sich Juwelen, Porzellan und über zehn Millionen Pesos in Gold und Silber an Bord befunden. Und erfahrungsgemäß hatten Passagiere und Seeleute damals obendrein ihre privaten Reichtümer auf dem Schiff versteckt.
Demnach mussten beide Wracks voller alter Kostbarkeiten sein, und ihre Entdeckung würde darüber hinaus zu den großen Funden dieses Jahrhunderts zählen.
Da Tate weiter nichts von Interesse fand, steuerte sie in Richtung Norden. Die Nähe der anderen Taucher schärfte ihren Blick und ihren Instinkt. Ein Schwarm hell leuchtender Fische schwamm wie ein perfekt geformtes V um sie herum, ein bunter Farbfleck inmitten der vielen Farben. Glücklich bewegte sie sich hindurch.
Trotz der Anwesenheit der anderen konnte Tate sich an kleinen Dingen erfreuen. Sie suchte unermüdlich weiter, fächerte Sand beiseite und studierte mit Begeisterung die Fische.
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Stück Felsen, aber ihre Erfahrung ließ sie direkt darauf zusteuern. Sie war nur noch einen Meter entfernt, als plötzlich eine Gestalt an ihr vorbeiglitt. Verärgert musste Tate zusehen, wie jemand mit einer vernarbten, langgliedrigen Hand nach dem vermeintlichen Felsstück griff.
Idiot, dachte sie und wollte gerade wenden, als sie erkannte, was der Taucher da in der Hand hielt. Es war kein einfaches Stück Fels, sondern der verkrustete Griff eines Schwerts, das er aus den Fängen der See befreit hatte. Er grinste unter seinem Mundstück und schwenkte triumphierend seine Beute.
Obendrein besaß er auch noch die Dreistigkeit, damit zu salutieren und ein Muster durch das Wasser zu schneiden. Als er sich in Richtung Oberfläche bewegte, folgte Tate ihm. Prustend tauchten sie auf.
Sie spuckte ihr Mundstück aus. »Ich habe es zuerst gesehen!«
»Das glaube ich kaum.« Immer noch grinsend, hob der Taucher seine Maske an. »Auf jeden Fall warst du zu langsam. Wer etwas findet, darf es behalten.«
»Die goldenen Regeln der Bergung«, sagte sie und bemühte sich, gelassen zu wirken. »Du hast in meinem Gebiet getaucht.«
»Meiner Ansicht nach befandest du dich in meinem. Vielleicht hast du ja beim nächsten Mal mehr Glück.«
»Tate, Liebling!« Vom Deck der Adventure winkte Marla Beaumont. »Das Essen ist fertig. Bring deinen Freund doch mit an Bord.«
»Wenn es Ihnen keine Umstände macht?« Mit ein paar kräftigen Bewegungen erreichte der Taucher das Heck der Adventure . Klappernd landete der Schwertgriff an Deck, gefolgt von seinen Flossen.
Tate verfluchte den Tag, der eigentlich der Beginn eines wunderbaren Sommers hätte werden sollen, und ging ebenfalls an Bord. Dabei ignorierte sie die ritterlich angebotene Hand und zog sich allein über die Reling. Kurz darauf kamen ihr Vater und der andere Taucher an die Oberfläche.
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Tates Begleiter fuhr mit einer Hand durch sein nasses Haar und lächelte Marla charmant an. »Matthew Lassiter.«
»Marla Beaumont. Willkommen an Bord.« Tates Mutter strahlte Matthew unter dem breiten Rand ihres geblümten Sonnenhutes an. Sie war eine auffallend schöne Frau mit blasser Haut und einer schlanken Figur, die sie unter einem weiten, fließenden Hemd und großzügig geschnittenen Hosen verbarg. Zur Begrüßung zog sie ihre Sonnenbrille ab.
»Wie ich sehe, haben Sie meine Tochter Tate und meinen Mann Ray bereits kennen gelernt.«
»Sozusagen.« Matthew schnallte seinen Bleigürtel ab und legte ihn und die Maske beiseite. »Hübscher Kahn.«
»Oh ja, danke.« Marla sah sich stolz um. Obwohl sie sich für Hausarbeit sonst nicht begeistern konnte, tat sie doch nichts lieber, als die Adventure auf Hochglanz zu halten. »Und das dort drüben ist Ihr Boot?« Sie zeigte zum Bug. »Die Sea Devil.«
Bei dem Namen entfuhr Tate ein Schnauben. Das passt, dachte sie, sowohl zu dem Mann als auch zu seinem Boot. Anders als die Adventure erstrahlte die Sea Devil nicht etwa in ihrem
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