Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
Kollege«, begann er und fürchtete zu stottern, »und als dein Vorgesetzter hatte ich kein Recht dazu, dir so nahe zu treten.«
Sie unterdrückte einen Seufzer.
»Hayden, es war nur ein Kuss. Und ich habe dich zuerst geküsst. Ich glaube nicht, dass du mich deshalb feuern musst.«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur sagen –«
»Du wolltest sagen, dass du mich küssen wolltest, dass du es getan hast und dass es schön war.« Geduldig nahm sie seine Hand. »Lass uns keine große Sache daraus machen. Besonders, da es eine viel größere Sache gibt. Willst du denn gar nicht wissen, warum ich an deine Tür gehämmert, dich aus dem Bett gezerrt und mich auf dich gestürzt habe?«
»Nun, ich …« Er wollte eine Brille zurechtrücken, die er gar nicht trug, und stach sich dabei mit dem Finger in die Nasenspitze. »Doch, natürlich.«
»Hayden, wir haben die Justine gefunden! Und jetzt halt dich fest«, warnte sie ihn, »weil ich dich nämlich noch mal küssen werde.«
Zweites Kapitel
D er Roboter erledigte die ganze Arbeit, und genau da lag vermutlich das Problem. Eine Woche, nachdem sie die Justine gefunden hatten, musste Tate sich ein vages Gefühl der Unzufriedenheit eingestehen.
Das Wrack erfüllte sämtliche Erwartungen. Es war mit Schätzen beladen, und sie hatten bereits Goldmünzen und -barren – manche von ihnen satte fünfzig Pfund schwer – sowie diverse wertvolle Kunstgegenstände an Bord geholt. Der Roboter arbeitete effizient, er grub die Funde aus, hob und bewegte sie, während Bowers und Dart die entsprechenden Knöpfe bedienten.
Hin und wieder unterbrach Tate ihre Arbeit, um auf dem Monitor zu beobachten, wie die Maschine mit ihren mechanischen Armen ein schweres Gewicht zutage förderte oder mit ihren Pinzetten vorsichtig einen Seeschwamm anhob, damit die Biologen ihn genauer untersuchen konnten.
Die Expedition erwies sich als voller Erfolg, und Tate war eifersüchtig auf einen hässlichen Metallroboter.
An ihrem Arbeitsplatz in einer der vorderen Kabinen fotografierte, untersuchte und katalogisierte sie die Gegenstände aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Kameebrosche, Steingutteile, Löffel, ein Tintenfass aus Zinn, der wurmzerfressene Kreisel eines Kindes. Und natürlich die Münzen. Auf ihrem Arbeitstisch funkelten Silber und Gold dank Lorraines Arbeit im Labor wie am ersten Tag.
Tate hob ein Fünf-Dollar-Goldstück hoch, eine wunderschöne kleine Scheibe aus dem Jahr 1857, dem Jahr, als die Justine sank. Durch wie viele Hände ist es gewandert? fragte sie sich. Vielleicht nur durch ein paar. Vielleicht hatte es in der Börse einer Dame oder der Westentasche eines Herrn gesteckt. Vielleicht hatte sich jemand damit eine Flasche Wein oder eine kubanische Zigarre gekauft. Und vielleicht war es nie ausgegeben, sondern gespart worden, als Belohnung am Ende der langen Reise.
Jetzt lag es in ihrer Hand, Teil eines verlorenen Schatzes.
»Hübsch, nicht wahr?« Lorraine kam herein. Sie trug ein Tablett mit Gegenständen, die sie gerade in ihrem Labor entkalkt und gesäubert hatte.
»Stimmt.« Tate legte die Münze wieder hin und vermerkte sie in ihrem Computer. »Hier gibt es genug Arbeit für ein Jahr.«
»Du klingst ja richtig begeistert.« Neugierig legte Lorraine den Kopf zur Seite. »Ich dachte immer, Wissenschaftler seien froh, wenn sie für eine Weile in Brot und Dienst stehen.«
»Ich bin begeistert.« Sorgfältig katalogisierte Tate die Brosche und legte sie auf ein Tablett. »Warum auch nicht? Ich bin als Mitglied eines Teams erstklassiger Wissenschaftler an einem der aufregendsten Funde meiner Karriere beteiligt. Mir stehen die beste Ausrüstung zur Verfügung und bessere Arbeits- und Unterkunftsbedingungen als normalerweise üblich.« Sie nahm das Spielzeug in die Hand. »Ich wäre doch dumm, wenn ich da nicht begeistert wäre.«
»Und warum erzählst du mir nicht, warum du dumm bist?«
Mit aufeinander gepressten Lippen drehte Tate den Kreisel. »Du bist noch nie getaucht. Es ist schwer zu erklären, wenn du noch nie unten warst, es noch nie selbst erlebt hast.«
Lorraine setzte sich und stützte ihre Füße an der Tischkante ab. Auf die Innenseite ihres Fußgelenks war ein buntes Einhorn tätowiert. »Ich habe Zeit. Warum versuchst du es nicht?«
»Das hier ist keine richtige Schatzsuche«, setzte sie an, und ihre Stimme verriet, wie ärgerlich sie über sich selbst war. »Hier dreht sich alles um Computer, Maschinen und Roboter, und natürlich ist
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