Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
das irgendwie eine tolle Sache. Ohne diese Ausrüstung hätten wir die Justine nie gefunden und könnten sie nicht so genau untersuchen.«
Eine Welle der Ruhelosigkeit ließ sie von ihrem Arbeitsplatz aufstehen und durch das Bullauge auf die See blicken. »Ohne die Maschinen wären wir an diese Dinge gar nicht herangekommen. Der Druck und die Temperaturen in diesen Tiefen machen das Tauchen unmöglich. Das sind nun einmal biologische und physikalische Gesetze, die ich akzeptieren muss. Aber verdammt noch mal, Lorraine, ich will selbst nach unten gehen! Ich will alles berühren. Ich will den Sand beiseite fächern und einen Teil der Vergangenheit freilegen. Bowers’ Roboter hat den Spaß für sich allein.«
»Ja, und er gibt ständig damit an.«
»Ich weiß, dass es albern klingt.« Und weil sie es wirklich wusste, brachte Tate ein Lächeln zustande. Sie drehte sich um. »Aber nach einem Wrack zu tauchen, selbst dort zu sein, ist ein unglaubliches Gefühl. Hier ist alles so steril. Ich hatte keine Ahnung, dass ich es so empfinden würde, aber jedes Mal, wenn ich in diesen Raum komme, um meine Arbeit zu tun, erinnere ich mich daran, wie es früher war. Mein erster Tauchgang, mein erstes Wrack, die Arbeit am Sauggerät, all die Fische, die Korallen, der Schlamm und der Sand. Die Arbeit, Lorraine, die körperliche Anstrengung … Man fühlt sich wie ein Teil des Ganzen.« Sie breitete die Arme aus und ließ sie wieder sinken. »Hier ist alles so weit entfernt, so kalt, ich habe das Gefühl, dass wir Eindringlinge sind.«
»Es ist dir zu wissenschaftlich?«, hakte Lorraine nach.
»Wissenschaft ohne Beteiligung des Menschen, zumindest was mich betrifft. Ich weiß noch, wie ich meine erste Münze fand, ein silbernes Pesostück. Wir waren auf ein unberührtes Wrack in der Westindischen See gestoßen.« Tate
seufzte und ließ sich wieder nieder. »Ich war zwanzig. Es war ein ereignisreicher Sommer. Wir fanden eine spanische Galeone und verloren sie wieder. Ich verliebte mich, und mein Herz wurde gebrochen. Danach habe ich mich nie wieder so bedingungslos auf etwas oder jemanden eingelassen. Ich wollte es nicht.«
»Wegen des Schiffes oder des Mannes?«
»Wegen beidem. Innerhalb weniger Wochen habe ich unglaubliches Glück und bodenlose Trauer erlebt. Mit zwanzig ist das eine schwierige Erfahrung. Im darauf folgenden Herbst ging ich wieder aufs College und hatte mein Ziel klar definiert. Meinen Abschluss wollte ich machen und die Beste auf meinem Gebiet werden. Ich wollte genau das tun, was ich jetzt tatsächlich mache, und dabei die notwendige professionelle Distanz wahren. Und hier sitze ich nun acht Jahre später und frage mich, ob ich nicht einen schrecklichen Irrtum begangen habe.«
Lorraine zog eine Augenbraue in die Höhe. »Deine Arbeit macht dir also keinen Spaß?«
»Ich liebe meine Arbeit. Ich habe nur ein Problem damit, dass Maschinen den angenehmsten Teil übernehmen und mir diese professionelle Distanz aufzwingen.«
»Für mich klingt das nicht nach einer Krise, Tate, sondern vielmehr so, als ob du dir deine Sauerstoffflaschen umschnallen und dich ein wenig amüsieren solltest.« Lorraine betrachtete ihre frisch manikürten Fingernägel. »Falls das deine Vorstellung von Amüsement ist. Wann warst du zuletzt im Urlaub?«
»Lass mich nachdenken …« Tate lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Vor etwa acht Jahren, abgesehen von ein paar langen Wochenenden und Weihnachten zu Hause.«
»Die zählen nicht«, stellte Lorraine fest. »Doktor Lorraines Rezept ist ganz einfach. Wir haben es mit einem klassischen Fall von Melancholie zu tun. Sobald wir hier fertig sind, machst du einen Monat Urlaub und fährst irgendwohin,
wo es viele Palmen gibt und du viel Zeit mit den Fischen verbringen kannst.«
Plötzlich entwickelte Lorraine ein intensives Interesse an ihrem korallenroten Nagellack. »Und falls du dich einsam fühlst, Hayden würde dich nur zu gern begleiten.«
»Hayden?«
»Um einen Fachausdruck zu benutzen: Der Mann ist verrückt nach dir.«
»Hayden?«
»Ja, Hayden.« Lorraine lehnte sich zurück. »Herrgott, Tate, bekommst du denn gar nichts mit? Er himmelt dich seit Wochen an.«
»Hay…«, begann Tate, dann riss sie sich zusammen. »Wir sind Freunde, Lorraine, Kollegen.« Plötzlich erinnerte sie sich an den Kuss in der Nacht, als sie die Justine gefunden hatte. »Verdammt.«
»Er ist ein toller Mann.«
»Natürlich ist er das.« Verblüfft strich Tate mit einer Hand über ihr
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