Der Ruf der Wellen: Roman (German Edition)
sorgfältig herausgearbeiteten Strauß aus Rosenknospen, bevor sie den Verschluss öffnete.
»›Für David, meinen geliebten Mann. Mit dir bleibt die Zeit stehen. Elizabeth. 2.4.’49.‹«
Sie seufzte. »In den Unterlagen habe ich ein Ehepaar David und Elizabeth MacGowan gefunden«, bemerkte sie mit belegter Stimme. »Und ihre drei minderjährigen Kinder. Elizabeth und ihre älteste Tochter überlebten. Sie verlor einen Sohn, eine weitere Tochter und ihren geliebten David. Für sie blieb die Zeit wohl für immer stehen.«
Tate schloss die Uhr vorsichtig. »Er muss sie getragen haben, als das Schiff sank«, murmelte sie. »Vielleicht hat er sie geöffnet, hat die Gravur zum letzten Mal betrachtet, nachdem er sich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte. Sie sahen einander nie wieder. Über hundert Jahre hat dieser Beweis ihrer Liebe darauf gewartet, dass ihn jemand findet und an sie denkt.«
»Es ist beschämend«, sagte Hayden nach einer Weile, »wenn die Studentin besser ist als ihr Lehrer. Du bist besser, als ich es je war«, fügte er hinzu, als Tate überrascht aufsah. »Ich hätte eine Uhr gesehen, ihren Stil, den Hersteller. Ich hätte die Gravur notiert und mich darüber gefreut, auf ein Datum zu stoßen, das meine Berechnungen bestätigt. Vielleicht hätte ich kurz über David und Elizabeth nachgedacht, sicher hätte ich die Unterlagen nach ihren Namen durchsucht. Aber für mich wären sie nicht lebendig geworden, ich hätte sie nicht gespürt.«
»Mit Wissenschaft hat das herzlich wenig zu tun.«
»In der Archäologie geht es um das Studium der Kultur. Viel zu häufig übersehen wir dabei, dass Menschen diese Kultur lebendig machen. Die wirklich guten Wissenschaftler vergessen das nicht, sie sorgen dafür, dass die Vergangenheit Bedeutung bekommt.« Er legte eine Hand auf ihre. »So wie du.«
»Aber ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn mich die Vergangenheit so traurig stimmt.« Sie drehte ihre Handfläche nach oben, sodass ihre Finger sich um seine schließen konnten. »Wenn ich könnte, würde ich diese Uhr nehmen, die Urgroßenkel der beiden Verstorbenen suchen und ihnen
sagen: Schaut her, das ist ein Teil von David und Elizabeth. So waren sie.« Tate legte die Uhr wieder hin. »Aber sie gehört mir nicht. Heute gehört sie noch nicht einmal mehr ihnen. Sie gehört SeaSearch.«
»Ohne SeaSearch wäre sie nie gefunden worden.«
»Das ist mir natürlich klar.« In dem Bedürfnis, sich ihrer eigenen Gefühle bewusst zu werden, wandte sie sich ihm zu. »Was wir hier tun, ist wichtig, Hayden. Die Art, wie wir es tun, ist innovativ und effizient. Hinter dem Schatz, den wir hier heben, stehen Wissen, Forschung, Theorie. Wir machen die Justine und die Menschen, die mit ihr untergingen, wieder real und lebendig.«
»Aber?«
»Jetzt kommt etwas, das mir Probleme bereitet. Wo wird Davids Uhr landen, Hayden? Und die Dutzende und Aberdutzende persönlicher Besitztümer, die diese Menschen bei sich hatten? Wir haben keinerlei Einfluss darauf, weil wir, wie wichtig unsere Arbeit auch sein mag, nur Angestellte sind. Wir sind nur winzige Rädchen in einer riesigen Maschine. SeaSearch gehört Poseidon, Poseidon gehört Trident, und so weiter.«
Hayden verzog die Lippen. »Die meisten von uns verbringen ihr Berufsleben als Rädchen, Tate.«
»Und das genügt dir?«
»Ich denke schon. Ich bin dazu in der Lage, in dem Bereich zu arbeiten, der mich interessiert, den ich unterrichte, lehre und veröffentliche. Ohne diesen großen Apparat mit seinen gelegentlichen Anwandlungen von sozialem Gewissen oder seinem Bedarf an Abschreibungsobjekten könnte ich es mir nicht erlauben, diese Art von praktischer Arbeit zu machen und mir trotzdem ziemlich regelmäßig eine warme Mahlzeit zu leisten.«
Damit hatte er natürlich Recht. Sein Argument klang vernünftig. Und doch …
»Aber ist das genug, Hayden? Darf es genug sein? Was versäumen
wir, während wir hier oben hocken? Wir gehen keine Risiken ein, erleben die Jagd nicht. Wir haben keinen Einfluss und keine Kontrolle darüber, was wir tun und was wir entdecken. Laufen wir nicht Gefahr, die Leidenschaft zu verlieren, die uns ursprünglich für diesen Beruf begeistert hat?«
»Du bestimmt nicht.« In seinem Herzen fand er sich langsam mit dem ab, was sein Verstand ihm schon lange sagte. Sie würde ihm nie gehören. Sie war eine exotische Blume, er dagegen nur eine hart arbeitende Drohne. »Du wirst die Leidenschaft nie verlieren, denn sie ist ein Teil von
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