Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
Berkeley Square … und was war mit dem Gefängnisschiff? Es hatte keinen Faraday gegeben, weil der angeblich versetzt worden war. Dupré war getötet worden. Weil er über Asharti Bescheid gewusst hatte? Hätten die Wachen auch John getötet, an jenem letzten Tag auf dem Schiff, wenn seine Mitgefangenen ihn nicht geschützt hätten? Barlow war überrascht gewesen, ihn zu sehen, als er zurückgekehrt war … Es war möglich. »Doch nicht Barlow«, murmelte John.
»Er hat mir gesagt, er sei es müde gewesen, einer so unentschlossenen und korrupten Regierung zu dienen. Er stand am Ende seines Lebens. Sie hat ihm ewiges Leben geboten und die Chance, sich eine neue Realität zu schnitzen. Er wollte Asharti nicht abschwören … Ich musste …« Sie zögerte, wechselte dann das Thema. »Willst du Blut trinken?«
Er schüttelte den Kopf, um einiges zu vehement. Sie würde ihn dazu zwingen. Ein bleiernes Gewicht senkte sich in seinen Magen.
Aber sie tat es nicht. Sie zog die Bettdecke zurecht. »Schlaf, wenn du kannst.« Sie hockte sich neben ihn.
Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Wie lebst du damit?«
Sie fragte nicht, was er meinte. »Ich wurde damit geboren.«
»Deine Mutter hat dich von der Wiege an gelehrt, wie du …« Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zurückzudrängen.
»Meine Mutter hat mich gar nichts gelehrt.« In ihrer Stimme lag die Bitterkeit einer lang zurückliegenden Zeit. »Sie hat mich verlassen. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Ich wurde zurückgelassen und musste selbst für mich sorgen, als das Verlangen nach Blut in mir erwachte, mit dreizehn oder vierzehn Jahren. Ich habe mir genommen, was ich brauchte – in den dunklen Gassen Amsterdams im elften Jahrhundert. Ich habe den Männern, die sich meiner bedienen wollten, die Kehle aufgerissen. Sie haben mehr bekommen, als sie wollten, wenn nicht mehr, als sie verdient hatten.«
Er ließ ihre Hand los. Der Gedanke an ein wunderschönes junges Mädchen von vierzehn Jahren, das gezwungen gewesen war, in den Gassen von Amsterdam zu überleben, war schrecklich. Er versuchte, nicht an das elfte Jahrhundert zu denken. »Gab es niemanden, der dir hätte helfen können?«, fragte er ruhig.
Sie lächelte, den Blick in die Ferne gerichtet. »Stephan. Stephan Sincai. Er hat mich gerettet.« Ihre Gedanken kehrten aus der Erinnerung zurück, und sie sah John ernst an. »Und auch Asharti.«
John zog die Augenbrauen zusammen. Sie kannte Asharti schon ihr ganzes Leben lang?
»Ja«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage. »Wir waren einst wie Schwestern, nur dass ich als Vampir geboren worden war, während Asharti geschaffen wurde, so wie du. Stephan hat uns beide gerettet. Es war verboten, Vampire zu schaffen. Das Verbot gilt noch immer. Sie wurden getötet, wenn man ihrer habhaft wurde, weil sie oft wahnsinnig wurden. Stephan wollte den Ältesten im Kloster Mirso beweisen, dass geborene und geschaffene Vampire sich nicht voneinander unterscheiden – sofern der erschaffene Vampir sich seinem neuen Zustand anpasst –, wenn sie gleich aufwachsen und geliebt werden.«
»Er hat dich geliebt?« Da war ein Prickeln von etwas wie Ärger um Johns Herz.
»Ich weiß es nicht.« Sie sagte es ruhig. Irgendwann einmal, darauf wettete John, war sie nicht ruhig gewesen. Sie hatte dieses Ungeheuer geliebt. Vielleicht tat sie es noch. »Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Liebe ist. Nachdem wir ihn verlassen hatten, ist er durch die Welt gezogen. Irgendwie war er zutiefst verletzt. Heißt das, er hat uns geliebt? Ich denke nein.«
»Es sieht ganz so aus, als sei sein Experiment fehlgeschlagen, wenn Asharti das Ergebnis ist.«
Sie wandte den Blick ab. »Vielleicht« – ihr Blick glitt durch das Zimmer – »vielleicht hat sie diese Saat des Bösen immer schon in sich getragen. Vielleicht hat Stephan nur die falsche Person ausgewählt, um seine Theorie zu beweisen.« Sie holte tief Luft. »Jahrhunderte später erfuhr ich, dass er es den Ältesten ausgeredet hatte, Asharti zu töten. Vielleicht hat er sie geliebt. Er hat die volle Verantwortung für sie übernommen. Aber er hat sie nie zur Rechenschaft gezogen.«
»Könnte er das denn?«
»Er ist sehr alt. Und das bedeutet, dass er sehr mächtig ist.«
»Wie alt?« Was war für eine Frau, die seit siebenhundert Jahren lebte, alt?
»Oh, Tausende von Jahren. Ich weiß es nicht genau. Er ist nicht so alt wie Rubius, der Älteste. Einige sagen, er sei sechstausend Jahre alt und stamme
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