Der Ruf der Wollust: Roman (German Edition)
über den Umgang mit den Überresten der Toten. John konnte es kaum erwarten, wieder unter Deck getrieben zu werden.
Lieutenant Rose kam zum Rand des Achterdecks, um sie zu beobachten. Er grinste. »Französische Hunde«, sagte er zu seinem Stellvertreter. »Sie sind vollkommen geistlos. Man muss ihnen zeigen, wer der Herr ist.«
John fühlte die Wut hochkochen. Ruhig Blut , ermahnte er sich. Vor sich sah er, wie Reynard seltsam steif wurde.
Lachen brandete hinter ihm auf. Es war eine besondere nasale, englische Art von Lachen, die John tausendmal in den Clubs von St. James gehört hatte. Ein Fass mit halb verfaulten Kartoffeln stand in der Ecke. Er sah, wie Reynard sich vorbeugte. John erschrak.
In dem langen Augenblick, in dem er erkannte, was gleich geschehen würde, schossen widerstreitende Gefühle durch Johns Brust. Er durfte weder sich selbst noch seine Mission gefährden. Reynard hatte recht. Hier war kein Platz für Gefühle. Aber selbst Reynard konnte sich nicht an seinen eigenen Ratschlag halten, und welch besseren Weg gab es, die anderen von seiner Loyalität gegenüber dem Kaiser zu überzeugen?
Reynard fuhr herum und schleuderte eine Kartoffel auf den Lieutenant. Sie traf ihn direkt auf die Brust. Die weichen Fasern zerplatzten auf dem Rock des Lieutenants zu einem schmierigen Film. Fast ohne zu denken trat John ebenfalls an das Fass, nahm eine riesige Kartoffel heraus, tauchte sie in einen Eimer mit Teer und schleuderte sie wie ein Geschoss ab. Sie traf den Lieutenant am Hals, an dem die schwarze, stinkende Masse sofort herunterzulaufen begann, um sich auf der betressten Uniformbrust zu verteilen. Und diesmal sah der Lieutenant geradewegs zu ihm.
Auch die anderen Gefangenen liefen nun zu dem Fass, tauchten ihre verrottenden Wurfgeschosse in den Teer und begannen, sie auf die Offiziere zu werfen. Rose brüllte, das werde sie den Kopf kosten, aber die englischen Offiziere mussten bald den Rückzug antreten. Selbst als die Wachen begannen, mit ihren Schlagstöcken um sich prügeln, flogen die geteerten Kartoffeln weiter. Dupré erhielt einen Schlag gegen den Kopf. John fühlte die Knüppel auf seinen Schultern. Der schrille Triumph in den Stimmen der Gefangenen gab ihm Kraft. Er hatte bereits sechs der schmierigen Geschosse geworfen, als immer mehr Wachen aus der Tür zur Kabine unter dem Achterdeck auftauchten. John sah Dupré zu Boden gehen und zog ihn zwischen sich und Reynard, um ihn zu schützen. Aber der Aufruhr verebbte bald. Gefangene stöhnten und hielten sich die Rippen oder den Kopf. Rose – eine geschwärzte klebrige Gestalt, Teer in den Haaren, auf seinen goldenen Tressen, seinem weißen Stock – brüllte wie am Spieß.
»Greift euch den Großen da«, schrie er. Hände packten John. »Man hat mir ja gesagt, dass er ein Unruhestifter ist. Peitscht ihn aus und werft ihn ins Loch. Ich will sein Gesicht eine Woche lang nicht sehen.«
Vier Wachen überwältigten John. Reynard, das Gesicht schmerzlich verzogen, starrte ihn an. Dupré sah nachdenklich aus. John grinste und begann, die Marseillaise zu singen. Reynard schluckte und fiel mit ein. Andere folgten, einer nach dem anderen. Bald hallte ein Chor von Männerstimmen über das Deck.
»Bringt die anderen Gefangenen an Deck zur Bestrafung.« Rose musste schreien, um gehört zu werden.
Dupré fiel als Letzter in den Gesang mit ein. John wurde über das Ankerspill gezerrt und daran festgebunden. Walden, der grobschlächtige Wachmann, grinste und riss das Hemd von Johns Rücken. John sah sich ohne große Hoffnung um. Wo blieb Faraday?
Beatrix schützte Krankheit vor und sagte ihren Salon am Dienstag ab. Symington schickte Boten durch die Stadt mit der plötzlichen Nachricht. In gewisser Weise war sie auch krank. Sie konnte die unverhohlene Bewunderung nicht mehr ertragen, die Posen auf der einen Seite und die erzwungene Fröhlichkeit oder, noch schlimmer, Gleichmut auf ihrer Seite. Es hätte damit geendet, dass sie die Gäste angeschrien hätte. Aber sich selbst überlassen zu sein war noch schlimmer. Den ganzen Tag eingesperrt in die künstliche Dunkelheit ihres Boudoirs, war sie bis zur Erschöpfung hin und her gelaufen, und jetzt, da die Dämmerung sich herabsenkte, streckte sich die Nacht unheilvoll vor ihr aus.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren. Sie hatte allen Dienstboten für den Abend freigegeben. »Gehen Sie.«
Stattdessen wurde die Tür geöffnet, und Symington trat ein. Er trug ein Tablett mit einem
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