Der Ruf des Abendvogels Roman
bist du es wirklich?«
Tara hörte die Hoffnung in ihrer Stimme; also hatte sie sie doch nicht vergessen! »Ja, Tante. Du ahnst nicht, wie glücklich ich bin, dich zu ... sehen!« Ein Schluchzen hinderte sie am Weitersprechen.
Victoria schloss ihre Nichte in die Arme und weinte Tränen der Freude. »Tara, Tara! Ich kann noch gar nicht glauben, dass du es wirklich bist! Ich habe so darum gebetet, dass du eines Tages kommen würdest – ganz verzweifelt habe ich darum gebetet, und jetzt hat Gott mich erhört!«
»Ich hatte schon gedacht, du erkennst mich nicht mehr ...«
»Es tut mir Leid. Es war so ein Schock, jemand anderen als Nerida dort an der Tür stehen zu sehen – ich hatte sehr lange keinen Besucher mehr, und außerdem sehe ich nicht mehr so gut. Ich dachte, ich bilde mir etwas ein ... Aber wie sollte ich dich jemals vergessen? Woher kommst du jetzt eigentlich, und wie bist du hierher gelangt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Ich habe dir viel zu erzählen. Aber zuerst möchte ich wissen, ob meine Anwesenheit hier für dich eine Belastung darstellt.«
»Eine Belastung?« Victoria runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?«
»Die Wirtschaftskrise hat das Leben für jeden schwieriger gemacht, und das Leben hier draußen muss sowieso schon hart genug sein. Ich möchte dir nicht noch zusätzlich zur Last fallen.«
Victoria schüttelte den Kopf. »Was für ein Unsinn, Kind.«
Tara war erleichtert, das zu hören, doch ein leiser Zweifel blieb. Sie war nicht sicher, ob ihre Tante es überhaupt zugegeben hätte, wenn sie ihr tatsächlich zur Last fiel.
»Ich weiß, dass viele sehr unter der Depression leiden – aber für uns bedeutet sie nicht mehr als eine kleine Unannehmlichkeit. Tambora geht es nicht prächtig, wir haben schon bessere Jahre gehabt, aber wir sind absolut nicht in Schwierigkeiten. Ich habe hier ausgezeichnete Helfer an meiner Seite.«
Tara war verwirrt. Nach dem, was sie bisher gesehen und Ethan ihr erzählt hatte, konnte es Tambora nicht gut gehen. Sie war ihrer Tante dankbar für die herzliche Großzügigkeit, die so typisch für sie war. Doch noch wusste sie nicht alles, nämlich dass ihre Nichte auch noch zwei Kinder bei sich hatte, zweihungrige Mäuler mehr. »Tante Victoria, ich habe dir wirklich unendlich viel zu erzählen«, sagte sie deshalb ein wenig unbehaglich.
»Aber du musst doch müde sein, Tara – willst du dich nicht vielleicht ein bisschen hinlegen?«
»Nein – ich bin viel zu aufgeregt, um jetzt zu schlafen.«
Victoria lächelte. »In diesem Fall lasse ich uns einen Tee bringen, und dann können wir uns in aller Ruhe unterhalten.« Sie zog an einer Schnur neben ihrem großen Bett, über dem ein Mückennetz hing, und führte Tara dann hinaus auf den Balkon. Der Blick war überraschend schön, der Balkon selbst angenehm schattig und kühl, obwohl der leichte Wind viel Wärme mitbrachte. Die Zweige der Bäume berührten fast das Haus und erweckten den Eindruck, man säße inmitten eines saftig grünen Blätterdachs.
Von den höchsten Ästen ertönte der Ruf der Kakadus, die die dünneren Zweige abfraßen, und der Vogel in der Eingangshalle krächzte eine Antwort. Von einem etwas weiter entfernten Baum hörte man den Schrei einer Krähe.
»Es ist unglaublich schön hier, Tante«, stellte Tara fest, doch ihrem aufmerksamen Blick entgingen weder die Spinnweben unter den Dachbalken noch die Hinterlassenschaften kleiner Tiere auf den Fensterbänken.
»Wenn es einen nicht stört, dass eine ganze Opossum-Familie das Haus heimsucht und nachts über einen hinwegklettert. Sie sind in dieser Gegend gar nicht heimisch, aber Tom hat vor Jahren ein Pärchen mitgebracht, und die Familie ist enorm schnell gewachsen. Manchmal richten sie sogar wirklich Schaden an.«
»Opossums?«, meinte Tara ungläubig.
»Ja – das sind Nachttiere und furchtbar niedlich, aber leider nicht stubenrein.«
Tara rückte ein Stück von der Fensterbank ab. »Können sie beißen?«
»Sie können schon. Aber mittlerweile sind sie recht zahmgeworden. Nerida würde sie am liebsten in den Kochtopf werfen, aber ich lasse es nicht zu.«
»Opossumgulasch sehr gut«, sagte Nerida, die in diesem Moment mit einem Tablett herauskam.
»Kannst du uns etwas Tee bringen?«, bat Victoria gerade, als das Mädchen das Tablett auf einem niedrigen Tisch abstellte. »Oh, du kannst Gedanken lesen.
Tara musste erkennen, dass das Augenlicht ihrer Tante sehr viel schlechter war, als man ihr gesagt hatte.
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