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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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Anscheinend hatte sie das Tablett in Neridas Händen nicht gesehen, sondern nur das Klappern des Porzellans gehört.
    »Wie du siehst, werde ich gut gepflegt, Tara«, sagte sie und fügte, an das Hausmädchen gewandt, hinzu: »Hast du meine Nichte schon kennen gelernt, Nerida?«
    »Ja, Missus. Sie überrascht?«
    »Oh ja, das war ich. Wir werden uns jetzt ganz in Ruhe unterhalten, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Bitte sagen Sie Tadd, er soll uns nicht stören. Er wollte heute Morgen mit mir über den Verkauf einiger Schafe sprechen, aber ich möchte für die nächste Stunde nichts von Geschäften hören.«
    Tara beobachtete ihre Tante, während diese sprach, und entdeckte dabei eine Art, sich zu geben, die sie nicht an ihr kannte. Ethan hatte sie eher als tatkräftige Farmersfrau beschrieben, aber sie beherrschte die Rolle der ›Dame des Hauses‹ ebenfalls ausgezeichnet. Wahrscheinlich ein Überbleibsel aus ihrer Zeit in Indien, während der Kolonialherrschaft. Lag es an diesem Haus und an den Dienern, dass sie die Wirklichkeit um sich her gar nicht wahrzunehmen schien, die Fliegen, den Staub, die Hitze und die Trockenheit, den Kampf der Farmer, um über die Runden zu kommen? Oder war es ihr Geisteszustand? Tara wusste es nicht. Sie hätte sich vielleicht von der scheinbar sorglosen Art ihrer Tante täuschen lassen, wenn Ethan ihr nicht erklärt hätte, wie schwierig das Leben hier draußen war. Oder spielte Victoria ihr nur etwas vor, um ihre Sorgen zu zerstreuen?
    Als sie entspannt inmitten der Kübelpflanzen auf dem schattigen Balkon saßen, fühlte sich Tara stark genug, von ihrer Vergangenheit zu berichten. Es war, als werfe sie eine schwere Last ab. Victoria hörte ihr zu, stellte ab und zu eine Frage, doch sie wirkte unvoreingenommen. Es fiel Tara nicht so schwer wie erwartet, über Stanton Jackson und die Vergewaltigung zu sprechen, und Victoria zweifelte nicht eine Sekunde an ihrer Unschuld.
    »Mein eigener Vater hat mir nicht geglaubt. Er hat lieber einem Angestellten vertraut, und das hat mir das Herz gebrochen. Ich musste mit den Zigeunern gehen – zu Hause bleiben konnte ich nicht.«
    Victoria schüttelte betroffen den Kopf. »Meine Liebe, dein Vater ist mein Bruder, und ich liebe ihn sehr – aber sein einziger Fehler ist sein mangelndes Gespür für Menschen. Er kann auf fünfzig Meter Entfernung ein preisgekröntes Zuchtschaf von einem gewöhnlichen unterscheiden und hat ein außergewöhnlich gutes Auge für Vollblutpferde; aber was Menschen angeht, ist er sehr unsensibel.«
    Tara wusste, dass ihre Tante auch auf ihre Mutter anspielte, deren Fehler ihr Vater niemals hatte sehen wollen.
    »Tante Victoria, ich bin nicht entführt worden, auch wenn mein Vater dir das gesagt hat. Die Zigeuner waren sehr freundlich zu mir, das musst du mir glauben.«
    Ihre Tante drückte ihre Hand. »Ich war mir nicht sicher, Tara. Der Brief, den du mir geschickt hattest, klang so vage, und dein Vater wollte glauben, dass sie dich entführt hatten. Das war einfacher für ihn und deine Mutter.« Victoria wirkte plötzlich sehr traurig. »Er hat dir Unrecht getan und dich dadurch verloren. Er war ein Narr, aber ich bin sicher, dass kein Tag vergeht, an dem er es nicht bereut.« Sie blickte nachdenklich über das ausgedörrte Land. »Trotzdem vermisse ich meinen Bruder – wir hatten sehr schöne Zeiten zusammen.«
    »Wie geht es ihm?«, hörte Tara sich selbst leise fragen.
    »Das wollte ich dich auch gerade fragen.«
    »Ich weiß es nicht, Tante Victoria, aber ich dachte, ihr wärt in Kontakt geblieben.«
    Die Ältere schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit ich in Tambora bin. Am Anfang habe ich ihm sehr oft geschrieben, aber er hat meine Briefe nie beantwortet.«
    Tara schwieg eine Weile, während Victoria ihren Tee trank. Obwohl sie ihrem Vater seine Handlungsweise niemals würde vergeben können, machte sie sich doch Sorgen um ihn – schließlich war er immer noch ihr Vater.
    »Woher hast du gewusst, wo du mich finden würdest?«, wollte Victoria wissen. »Hat Riordan Magee sich bei dir gemeldet?«
    »Wir sind uns unter etwas seltsamen Umständen begegnet«, erklärte Tara und berichtete, wie sie in die Galerie gegangen war, um ihr Bild zu verkaufen, und dort ihr eigenes Porträt gefunden hatte.
    »Ich war verkleidet, deshalb hat Riordan mich nicht sofort erkannt.«
    »Warum wolltest du nicht erkannt werden?«, fragte ihre Tante verwundert.
    »Eine Zigeunerin kann nicht so einfach

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