Der Ruf des Abendvogels Roman
hatte lange nicht mehr Besucher.«
Tara war darüber sehr verwundert und bemitleidete ihre Tante gleichzeitig. Victoria musste furchtbar einsam sein, wenn sie keinen Besuch bekam und nicht in die Stadt ritt. Auch wenn dort nicht viele Leute wohnten – Ferris hatte gesagt, an den Wochenenden sei es immer sehr voll.
»Wo steckt Victoria?«, fragte Ethan und führte sie in die gelbgrün gestrichene Eingangshalle, in der es nach der blendenden Sonnenglut draußen angenehm kühl war. Sie wurden vom durchdringenden Ruf eines weißen Kakadus begrüßt, der auf einer Stange saß und dessen Krächzen den Kindern einen furchtbaren Schrecken einjagte.
»Still, Zac – du verrückter Vogel!«, sagte Nerida, und das Tier stellte kampflustig seinen gelben Federkamm auf. »Still, Zac!«, rief der Papagei zurück.
»Missus Victoria noch oben«, erklärte Nerida. »Zieht sich an.«
»Ich würde gern hinaufgehen«, meinte Tara.
»Dann bleibe ich mit den Kindern hier unten«, schlug Ethan vor. »Nerida, das hier sind Jack und Hannah. Kannst du ihnen etwas zu trinken besorgen? Ich bin sicher, sie haben schrecklichen Durst.«
»Bei Sanja in der Küche«, antwortete sie mit hochgezogenenAugenbrauen, und auch Ethan runzelte die Stirn; Sanja musste wohl ein schwieriger Mensch sein. »Wir gehen hin«, erklärte Nerida tapfer.
Tara nahm den leichten Geruch fremdartiger Speisen wahr. Im Alkoven unter dem Treppenaufgang schlug eine wunderschöne Pendeluhr zehn Mal. Tara blickte sich in dem großen Treppenhaus um und entdeckte auf der Höhe des ersten Absatzes ein rundes Fenster aus buntem Glas, das in Grün- und Gelbtönen gehalten war und das Himmelsblau dahinter völlig anders erscheinen ließ. Tambora musste wirklich einmal ein großartiger Wohnsitz gewesen sein. Tara wünschte sich, sie hätte es noch zu Toms Lebzeiten gesehen.
»Die erste Tür rechts, Missus Tara«, rief Nerida, die vergessen hatte, dass sie die ›Missus‹ eigentlich hatte begleiten sollen.
Tara blieb einen Augenblick still stehen, ließ ihren Blick schweifen und nahm die Atmosphäre des Hauses in sich auf. Das Innere mit seinen hohen Decken wirkte kühl und geräumig, jedoch ein wenig ungepflegt. Überall standen Palmen in großen Übertöpfen, und wenn nicht auch sie ein wenig vernachlässigt ausgesehen hätten – ein anständiger Schnitt und ausgiebiges Wässern hätte schon einiges bewirken können –, wären sie Tara vorgekommen wie eine tiefgrüne Oase nach einer Reise durch die Wüste. Die Fliesen in der Eingangshalle mussten dringend gewischt werden. In einigen anderen Räumen sah Tara gebohnerte Dielenböden, Tapeten mit Blumenmustern und unzählige schöne alte Möbel, die ebenfalls dringend abgestaubt werden mussten.
Überall gab es Verzierungen und Nippes, sogar ein Grammofon entdeckte Tara bei einem Blick durch eine offen stehende Tür. Teppiche mit exotischen Fransen bedeckten die Böden. Das Treppenhaus war ganz aus poliertem Holz, und mitten im Flur lag ein riesiger Teppich. Tara fragte sich, wie oft Nerida wohl dieses riesige Haus putzte und ob ihr dabei irgendjemand zur Hand ging – denn eine Hilfe brauchte sie ganz sicher.
Tara blieb ganz still stehen und schloss die Augen. Sie fühlte, wiefreudige Erregung sie zu durchströmen begann. In ihren kühnsten Träumen hatte sie sich Tambora nie so wunderschön vorgestellt – denn das war es, trotz seines vernachlässigten Zustands.
Sie hatte ein heruntergekommenes Holzhäuschen mit zwei kleinen Fenstern erwartet und sich davor gefürchtet, jeden Morgen beim Öffnen der Tür vom Anblick der Wüste begrüßt zu werden, diesem glühenden, unfruchtbaren Ödland. Obwohl die Farm tatsächlich von Wüste umgeben war, hatten ihre Tante und deren Mann versucht, hier eine Oase zu schaffen. Tara stellte sich vor, einfach die Haustür hinter sich schließen und die staubigen Ebenen jenseits der Bäume dadurch vergessen machen zu können.
Als Nerida Ethan und die Kinder einen langen Flur hinunter zur Küche geleitete, ging Tara die Treppe hinauf. Auf dem Absatz blieb sie stehen, um aus dem Fenster zu schauen. Von hier aus blickte man auf die Flächen hinter dem Haus und die Nebengebäude. Sie sah Ställe und eine große Holzhütte, die wahrscheinlich als Schlafplatz für die Arbeiter diente und ebenfalls von Schatten spendenden Bäumen umstanden war.
Dahinter lag ein verkrauteter Gemüsegarten. Der Mais hatte sich selbst ausgesät, und die übrigen Pflanzen sahen aus wie genügsame Gräser, denen die
Weitere Kostenlose Bücher