Der Ruf des Abendvogels Roman
in die berühmte Harcourt Gallery spazieren und ein Bild verkaufen, Tante. Ich wäre sehr unsanft hinausgeworfen worden!«
Victoria unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte sich ihre schöne Nichte nie so recht als Zigeunerin vorstellen können. »Natürlich, ich vergaß ...«
»Als Riordan schließlich begriff, wer ich war, sagte er mir, du habest versucht, mich zu finden.«
»Ich erinnere mich an einen Brief, in dem er schrieb, er wisse, wo du seist – und dass er sicher sei, bald gute Nachrichten für mich zu haben. Ich war so aufgeregt! Doch dann kam ein Brief, in dem nur stand, er habe sich geirrt und werde weitersuchen. Danach hat er mir nur noch einmal geschrieben und das Thema ganz offensichtlich vermieden. Ich wusste nicht, was ich denken sollte, und schließlich habe ich angenommen, er hätte das Interesseverloren oder einfach zu viel Arbeit gehabt. Ich wollte ihn nicht drängen. Allerdings hatte er mir versprochen, das Bild zurückzuschicken, aber ich habe es nie bekommen.«
»Er wollte es dir tatsächlich schicken; es war schon eingepackt und adressiert, aber ich habe es aus der Galerie mitgenommen. Daher wusste ich auch, wo du bist.«
Ihre Tante lachte. »Na, das Original ist mir natürlich noch lieber.«
Tara lächelte, wurde jedoch gleich wieder ernst, als ihr einfiel, dass das Porträt mit der Emerald Star untergegangen war. »Den besagten Brief, in dem stand, dass er bald gute Neuigkeiten haben würde, muss Riordan geschrieben haben, kurz bevor er die Zigeuner fand, bei denen ich lebte.«
Victoria starrte sie verwundert an.
»Bevor er ein Wort mit mir wechseln konnte, haben ihn die Männer im Lager erwischt. Sie sind sehr eifersüchtig, was ihre Frauen betrifft, und er kam gar nicht dazu, ihnen zu erklären, wer er war oder was er wollte.«
»Was geschah?«
»Ich fürchte, sie haben ihn erbarmungslos zusammengeschlagen.«
Victoria war entsetzt, und Tara wusste, dass sie sich Vorwürfe machte. Obwohl Tara es eigentlich hatte für sich behalten wollen, beschloss sie, Victoria von Riordans Liebe zu einer Frau zu erzählen, die nur in seiner Fantasie existierte. »Ich hatte Zeit genug, darüber nachzudenken, Tante, und ich glaube, dass dich und mich daran keine Schuld trifft. Aus dem, was Riordan mir selbst erzählt hat, ging hervor, dass er fast besessen war von einer Leidenschaft für ›Tara, die Zigeunerin‹. Er hielt sich selbst für den Ritter in der schimmernden Rüstung, der zu ihrer Rettung herbeigeeilt kam. Als er mich für die Männer tanzen sah und begriff, dass ich keine Gefangene war, hat ihn das so getroffen, dass er unvorsichtig wurde. Und das hat ihn leider beinahe das Leben gekostet. Das schreckliche Erlebnis scheint ihn verbittert zu haben.Als ich versuchte, ihm zu erklären, wie es wirklich war, hat er sehr zynisch reagiert. Ich habe ihm erzählt, wie ich zu den Zigeunern gekommen bin, aber er wollte meine Geschichte nicht akzeptieren.«
»Es tut mir sehr Leid, das zu hören«, meinte Victoria. »Ich habe Riordan immer für einen mitfühlenden Menschen gehalten. Vielleicht gibt es etwas in seinem Leben, von dem wir nichts wissen und was ihn so bitter gemacht hat.«
Tara war erleichtert, dass ihre Tante in seiner Leidenschaft für ›Tara, die Zigeunerin‹ nicht den Grund für seine Bitterkeit sah. Sie wollte nicht glauben, dass sie selbst oder vielmehr eine Fantasiegestalt, deren Ursprung sie war, die Macht besaß, das Leben eines Mannes fast zu zerstören. Diese Verantwortung wäre eine zu schwere Last gewesen.
Sie erzählte weiter und berichtete von ihrer Freundschaft mit Maureen und Michael und dem Untergang der Emerald Star. »Meine Freunde sind ertrunken«, schloss sie leise.
»Das ist wirklich furchtbar tragisch, Liebes. Ich danke Gott, dass du überlebt hast! Was ist denn aus den Kindern geworden? Sag mir nur nicht, dass sie auch tot sind!«
Tara zögerte mit der Antwort, plötzlich voller Hemmungen. »Nein.«
»Gott sei Dank!«
Tara holte tief Luft. »Ich habe sie bei mir, Tante Victoria. Ich konnte nicht zulassen, dass man sie in ein Waisenhaus steckte und sie vielleicht voneinander getrennt würden!« Sie beobachtete ihre Tante ganz genau, und diese schien zwar erschrocken, aber absolut nicht ungehalten.
»Natürlich nicht«, sagte sie. »Du bist ein wunderbares Mädchen – schon immer warst du sehr großzügig!«
»Es stört dich also nicht?«
»Stören? Im Gegenteil – ich freue mich sehr!«
Erleichterung durchströmte Tara – doch sie musste ihrer
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