Der Ruf des Abendvogels Roman
wirst du ein Gefühl für dieses Land entwickeln. Das hier ist ein sehr spiritueller Ort; die Aborigines haben mich das gelehrt, genau wie sie es vor Jahren Tom gelehrt hatten.«
Tara konnte sich trotzdem nicht vorstellen, jemals dieselbe tiefe Zuneigung zu dem weiten Land um sie herum zu empfinden.
Ein paar Minuten später kam ein Mann herein. Tara blickte von dem Stapel Fotos in ihrem Schoß auf und erschrak: Es war derselbe Mann, den sie von dem Rundfenster auf dem Treppenabsatz aus beobachtet hatte.
Einen Augenblick lang schien er ebenso erschrocken, sie zu sehen, doch dann lächelte er, und seine Miene wurde freundlicher. Er nahm seinen schweißgetränkten Hut ab, unter dem dünne, graue Haare zum Vorschein kamen. Seine Hände waren rau, seine Gesichtsfarbe rötlich. Er hatte blaue Augen unter buschigenBrauen, war groß und stämmig, und die Unterschenkel waren leicht nach innen gebogen. Tara schätzte ihn auf Mitte fünfzig bis sechzig.
»Ich wusste gar nicht, dass du Besuch hast, Victoria!«, meinte er erstaunt.
»Das hier ist meine schöne Nichte Tara – sie ist den ganzen Weg von Irland herübergekommen!«, erwiderte Victoria stolz.
Der Mann legte ihr eine Hand auf die Schulter, und diese vertraute Geste überraschte Tara.
»Tara, das hier ist Tadd Sweeney, mein Verwalter.«
Tara wollte aufstehen, doch im letzten Moment fiel ihr ein, dass dann die Fotos herunterfallen würden. Tadd hielt sie mit einer Handbewegung zurück.
»Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Sweeney«, sagte sie, bemüht, sich ihr Erschrecken nicht anmerken zu lassen. »Ich ... habe schon viel von Ihnen gehört.«
»Nur Gutes, wie ich hoffe«, gab er lächelnd zurück.
Victoria lachte herzlich.
Tara zögerte einen Moment. »Natürlich, Mr. Sweeney.« Sie fühlte sich sehr eigenartig und fand es kaum glaublich, dass dieser Mann derselbe sein sollte wie der, den sie bei den Hundezwingern beobachtet hatte. Wenn Tadd Sweeney keinen Zwillingsbruder besaß, musste er zwei verschiedene Menschen in sich vereinen, von denen einer finster und gefühllos, der andere freundlich und zu Scherzen aufgelegt war.
»Bitte nennen Sie mich doch Tadd. Hier im Outback sind wir nicht so förmlich. Sie wollen sicher ihre Ferien hier verbringen, nicht wahr, Tara?«
Sie hörte das Zögern in seinem Ton, fast so, als fürchte er sich vor ihrer Antwort.
»Sie bleibt für immer hier, zumindest, wenn es nach mir geht«, erklärte Victoria. »Tara ist gekommen, um hier bei uns zu leben, und sie hat zwei Kinder. Dieser kleine Liebling hier heißt Hannah.«
Tara hatte Tadd beobachtet, während ihre Tante sprach, und meinte, in seinen Augen zuerst Überraschung gesehen zu haben, und dann ein kurzes verärgertes Aufblitzen. Doch danach hatte er sich wieder in der Gewalt und lächelte ihr freundlich zu. »Aber das ist ja wundervoll«, meinte er begeistert. »Ich hoffe nur, Sie mögen die Fliegen, die Hitze und den Staub!« Er versuchte, es wie einen Scherz klingen zu lassen, doch in seiner Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit.
»Nicht besonders – aber ich bin sicher, dass ich damit zurechtkomme«, erwiderte Tara. Zwar war sie alles andere als überzeugt davon, dass sie im Outback leben konnte oder es auch nur wollte, aber sie brachte es nicht über sich, das vor ihrer Tante auszusprechen. Es war so großzügig von ihr gewesen, sie alle ohne Umstände bei sich aufzunehmen.
»Für die Kinder gibt es hier draußen allerdings nicht viel Abwechslung«, wandte Tadd ein.
»Unsinn«, sagte Victoria entschieden. »Das Leben auf einer Farm ist für Kinder eine wunderbare Erfahrung, besonders für Jungen. Denk doch nur einmal daran, was du dem kleinen Jack alles beibringen kannst! Ich wünschte, ich wäre etwas beweglicher ...« Plötzlich wirkte sie wieder so zerbrechlich, dass es Tara einen schmerzhaften Stich gab, und so bemerkte sie Tadds leicht verärgerte Miene nicht.
Jetzt wandte Victoria sich an Tara. »Ein Lehrer von der presbyterianischen Mission in Beltana besucht die Farmen, auf denen Kinder erleben, und gibt ihnen Hausaufgaben. Vielleicht könnte Ethan sich mit Reverend Guthrie in Verbindung setzen und ihn wissen lassen, dass Jack und Hannah hier sind. Wenn unser Funkgerät nicht wieder kaputt wäre, könnten wir ihn selbst informieren.«
»Nein«, erwiderte Tara scharf. Sie wollte nicht, dass irgendjemand etwas von den Kindern erfuhr, bevor sie nicht sicher war, dass die Behörden nicht nach ihnen suchten.
Victoria sah sie verwundert an,
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