Der Ruf des Abendvogels Roman
habe er sie nicht gehört. Er hatte seine Finger durch den Draht gesteckt, und die Welpen leckten daran. Die Hündin blieb abwartend weiter hinten im Zwinger und beobachtete sie. Sie war ein Border-Collie und wirkte sehr schmal und scheu. Tara bemerkte ein Namensschild an der Käfigtür, auf dem ›Mellie‹ stand, und ihr fiel wieder ein, dass Neridas Mutter Mellie zu Hilfe hatte kommen wollen, als die Schlange sie gebissen hatte. Tara fand, dass die Hündin und ihre Jungen in dem Zwinger sehr gefährlich lebten, denn die Schlangen konnten ungehindert zu ihnen hineinkriechen.
»Warum sind diese Hunde in Käfigen?«, fragte Jack, ohne sie anzusehen.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie. »Ich finde es auch nicht gut, aber es sind Hütehunde, und vielleicht dient es ihrem eigenen Schutz.« Tara suchte den Boden nach etwas ab, das sich bewegte. Ihr Blick blieb lange auf einem Gegenstand in der Nähe haften, der aussah wie ein trockener Zweig.
»Wie soll es denn gut für sie sein? Sie hassen es, eingesperrt zu sein!«
Tara hörte den Zorn in seiner Stimme, und war verwirrt. Sein Ärger schien nicht nur der misslichen Lage der Hunde zu gelten, und dabei hatte sie gedacht, Jack sei froh über sein schönes neues Zuhause.
»Ich weiß nicht, Jack. Ich habe auch noch nie auf einer Farm gewohnt. Wir haben sehr viel zu lernen, und es wird lange dauern, bis wir uns zurechtfinden.« Sie sah ihn an, doch er gab seine Gefühl nicht preis. Er schien sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen zu haben, wahrscheinlich dachte er an seine Eltern. Tara musste sich eingestehen, dass ein schönes Heim den schrecklichen Verlust, den er erlitten hatte, niemals würde ersetzen können.
»Wie findest du unser neues Zuhause?«, fragte sie dennoch.
Er zuckte mit den Schultern.
»Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst, Jack! Ich kann dir deine Mutter nicht ersetzten, aber ich möchte gern wissen, wie es dir geht und was du fühlst.«
Er sah sie kalt an. »Warum tust du so, als ob es dich interessiert?«, fragte er, und bevor Tara antworten konnte, war er schon zur Vorderseite des Hauses gelaufen und verschwunden. Einen Augenblick blieb Tara bewegungslos stehen, wie im Schock. Was mochte seinen plötzlichen Stimmungswandel bewirkt haben? Verschiedene Möglichkeiten gingen ihr durch den Kopf, doch nichts schien einen Sinn zu ergeben. Nach einer Weile spürte sie, dass sie beobachtet wurde, und wandte ihre Aufmerksamkeit Mellie zu, die im hinteren Teil des schmutzigen Zwingers hockte und sie ansah.
»Na komm, Mädchen«, rief Tara sie. Die Hündin zögerte, wedelte aber immerhin mit dem Schwanz. »Komm, ich tu dir schon nichts!« Die Welpen kratzten eifrig am Drahtgeflecht herum – sie hofften, herausgelassen zu werden. Langsam kam auch ihre Mutter zum Tor, allerdings sehr schüchtern, den Schwanz zwischen den Hinterbeinen, den schönen Kopf mit den sanft blickenden braunen Augen gesenkt. Als Tara ihre Hand durch eine der Öffnungen im Draht schob, kauerte sie sich sofort wieder zusammen, doch nach ein paar beruhigenden, ermutigenden Worten hob sie den Kopf, um sich streicheln zu lassen, fast ungläubig darüber, dass jemand freundlich zu ihr war. Ihre drei Welpen nutzten die Gelegenheit und begannen zu saugen, wobei sie ihren ohnehin schon mageren Körper noch weiter auslaugten. Tara fand es höchste Zeit, dass die Kleinen selbst zu fressen begannen, damit Mellie sich wieder erholen konnte. Das rohe Fleisch auf dem Boden schien sie nicht sonderlich zu reizen, vielleicht auch wegen all der Fliegen, die darauf herumkrabbelten. Wahrscheinlich würde es bald von Maden nur so wimmeln. Tara konnte es kaum erwarten, mit Tadd Sweeney zu sprechen. Vielleicht wusste er nicht einmal, wie die Hunde behandelt wurden, weil er zu sehr mit der Verwaltung der Farm beschäftigt war.
Zurück im Haus fand sie ihre Tante im Wohnzimmer, mit Hannah an ihrer Seite, die zufrieden Süßigkeiten aß. Die Wände des Raums waren mit einer Tapete im Rosenmuster beklebt, was in Tara für einen Augenblick tiefes Heimweh nach dem Haus ihrer Familie in Edenderry aufsteigen ließ. Als sie sich umwandte, starrte sie erschrocken auf einen Glasschrank voller Gewehre, der sie wieder daran erinnerte, wo sie sich befand: im australischen Outback, einem unzivilisierten Stückchen Erde.
Victoria hatte eine Metallkiste mit alten Fotografien auf dem Schoß, die sie Ethan und der Kleinen zeigte – Jack war nirgends zu sehen.
»Haben Sie Jack gefunden?«,
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