Der Ruf des Abendvogels Roman
genötigt hatte. Doch Riordan war sich durchaus bewusst, dass Kelvin keineswegs ein Märtyrer war. Wenn er von dessen Opfern erfahren hätte, hätte er allen Grund gehabt, sich wegen Kelvins Ehrgeiz und hoch gesteckten Zielen Gedanken zu machen. Denn Kelvin sah seine Belohnung am Ende darin, der neue Eigentümer der vornehmen Harcourt Gallery zu werden.
Riordan seufzte tief auf, und Kelvins Euphorie über das gelungene Geschäft war schlagartig verflogen. Riordan interessierte das alles offensichtlich nicht im Mindesten, und Kelvin hattemittlerweile genug von dem melancholischen Selbstmitleid seines Arbeitgebers. Neben seinen irregulären »Aktivitäten« hatte er auch noch die ganze Arbeit in der Galerie allein zu bewältigen, als sei Riordan überhaupt nicht anwesend. Eigentlich lief es auf dasselbe hinaus, denn Riordan trug kaum noch etwas zum Ablauf der Geschäfte bei und war kaum mehr in der Galerie anzutreffen. Auch die Tatsache, dass er unrasiert war und sein Hemd aussah, als habe er darin geschlafen, sprach sehr dafür, dass sein Geisteszustand sich weiter verschlechterte. Für die Galerie wurde er mehr und mehr zu einer Belastung. Kelvin war versucht, ihn zu fragen, ob er die Nacht am Spieltisch verbracht hatte, doch er wusste, dass dem nicht so war. Riordan hatte sogar jedes Interesse für die Karten verloren, etwas, das Kelvin immer für unmöglich gehalten hatte. Die Zigeunerin war der Grund dafür, dass Riordan keine Kraft und keinen Ehrgeiz mehr besaß, genauso wie damals, als er auf die Suche nach ihr gegangen war. Vielleicht, so fand Kelvin, wäre es besser gewesen, er hätte sie gefunden. Vielleicht hätte er sie dann ein für alle Mal aus seinen Gedanken verbannten können!
Während der Geschäftsführer jetzt vor seinem Arbeitgeber stand und ihn beobachtete, dachte er an den Brief, den er in der Tasche hatte. Es war fast eine Ironie des Schicksals, aber vielleicht würde dieses Schreiben der Schlüssel zu Riordans Problem sein. Er zog den Umschlag, den er ursprünglich hatte verschwinden lassen wollen, aus der Tasche und schob ihn unauffällig zwischen die übrige Post.
»Heute ist eine Todesanzeige in der Zeitung, die Sie interessieren könnte«, sagte er in halb resigniert, halb sarkastisch und verließ dann eilig das Büro.
Eine Weile fuhr Riordan fort, aus dem Fenster zu starren. Eine Todesanzeige? Was mochte Kelvin damit gemeint haben? Dass er sich dafür interessieren würde? Als Erstes fiel ihm seine Familie ein. Doch er verwarf den Gedanken rasch wieder, dass einer seiner Verwandten gestorben sein könnte. In einem solchen Fallhätte man ihn sicher benachrichtigt, und sei es nur, um ihm mitzuteilen, dass er enterbt worden war. Er wusste, dass Kelvin Klatsch liebte, und folgerte daraus, dass der Verstorbene ein Mitglied der Oberschicht gewesen sein musste. Ohne Zweifel kannte Kelvin die Familiengeschichte in allen Einzelheiten und wusste, wer wen beerbte und wer leer ausgehen würde. Manchmal schien er förmlich in anderer Leute Unglück zu baden. Riordan hatte ihn immer für einen sehr neidischen Menschen gehalten, was wahrscheinlich an den einfachen Verhältnissen lag, aus denen Kelvin stammte.
Ein paar Minuten später schlug Riordan dann doch eher aus Gewohnheit die Zeitung auf in der stillen Hoffnung, der Verstorbene habe vielleicht einige wertvolle Kunstwerke besessen, die er selbst zu einem guten Preis erwerben konnte. Er las die Anzeigen und stieß überrascht den Atem aus, als er bei dem Namen ›Killain‹ angelangt war.
Ninian Killain war zehn Tage zuvor in seinem Haus in Edenderry gestorben. Er war nur zweiundfünfzig Jahre alt geworden. Riordan arbeitete sich durch die Namen der trauernden Hinterbliebenen, wobei er vor allem nach einem ganz bestimmten suchte, und fand tatsächlich Tara und ihre Brüder Daniel und Liam ebenso erwähnt wie Ninians Frau Elsa – nur Victorias Namen sah er nicht.
Es war auch unwahrscheinlich, dass Victoria schon vom Tod ihres Bruders wusste – es würde Monate dauern, bis die Nachricht sie erreichte. Auch wenn es mittlerweile eine Telegrafenlinie durch Australien gab, führte diese sicher nicht durch den kleinen Ort Wombat Creek.
Riordan spürte, dass er sich mit Victoria in Verbindung setzten musste, hatte es eigentlich schon gewusst, seit Tara einige Monate zuvor in der Galerie aufgetaucht war. Er hatte nur keine Ahnung gehabt, was er ihr über ihre Nichte hätte sagen sollen oder wie er ihr hätte beibringen können, dass Tara keineswegs
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