Der Ruf des Abendvogels Roman
und Tara merkte, dass auchTadd sie beobachtete. »Wir wollen Ethan keine Umstände machen«, fügte sie rasch hinzu. »Ich gebe den Kindern zuerst selbst Unterricht. Später können wir dann immer noch entscheiden, ob sie Stunden bei einem Lehrer nehmen.«
Bevor Victoria etwas sagen konnte, kam Ethan mit Jack herein, der den Blick gesenkt hielt. »Hier ist er«, meinte Ethan. »Victoria, das hier ist Jack, der beste Kamelpflegerlehrling, den ein Mann haben kann!«
»Wie wunderbar!«, erwiderte Victoria. »Dann kann sich Nugget ja jetzt vielleicht wieder mehr dem Vieh widmen«, sagte Tadd. Ethan starrte den Verwalter erstaunt an, doch Victoria überging dessen Kommentar. »Komm her, junger Mann, und iss etwas Süßes, bevor deine Schwester alles vertilgt hat«, meinte sie lachend, denn Hannas Gesicht war mittlerweile ganz klebrig und wies einige rosafarbene Flecken auf. Zögernd ging Jack zu den beiden hinüber und nahm ein Bonbon an.
»Jack mag Hunde sehr gern«, meinte Tara, an Tadd gewandt. »Die Zwinger hinter dem Haus hat er auch schon entdeckt.«
»Die Hunde sind Arbeitstiere, keine Haustiere.« Tara bemerkte in Tadds Blick wieder jene Härte, die ihr bereits draußen bei den Zwingern an ihm aufgefallen war. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe vor dem Essen noch einiges zu tun«, erklärte er und verließ den Raum, nachdem er sich mit einem weiteren Schulterklopfen von Victoria verabschiedet hatte.
Als er hinausging, blickte Tara zu Ethan hinüber, der dem Verwalter mit leicht gerunzelter Stirn nachschaute.
»Die Kinder können doch mit den Welpen spielen, nicht wahr, Tante?«, fragte sie.
»Natürlich können sie! Die Hunde haben es im Blut, Schafe und Rinder zusammenzutreiben, und daran ändert sich nichts, wenn man sie ein bisschen verwöhnt. Tadd sieht das anders. Er züchtet die Hunde, trainiert sie und verkauft sie dann. Das ist ein guter Nebenverdienst für die Farm. Unsere Zwinger sind imganzen südlichen Outback bekannt, und Mellie wirft die besten Welpen im Land – fast alle werden prämiert. Tadd fährt zu allen Ausstellungen für Hütehunde, und Tom hat dasselbe mit Mellies Mutter getan. Bis zu seinem Tod hat er jedes Jahr einen Preis gewonnen.«
Tara hegte den Verdacht, dass Tadd die arme Mellie auf diese Weise zu Tode züchtete, sagte aber nichts.
Kurz darauf kam Nerida mit einem Tablett voller kalter Getränke und einigen Reiskuchen zum zweiten Frühstück herein. Im Hintergrund hörte man lautes Töpfeklappern von der Küche her.
»Sanja ist sehr aufgeregt«, sagte Nerida zu Ethan. »Er hat Vorräte ausgepackt und sagt, Sie haben den falschen Kurkuma mitgebracht und seine Lorbeerblätter vergessen.«
Ethan hob die Brauen und unterdrückte nur mühsam einen Fluch. »Du kannst Sanja sagen, dass ich ein Lorbeerblatt nicht von einem Akazienblatt unterscheiden kann, und Kurkuma ist Kurkuma – was zum Teufel soll es da für einen Unterschied geben?«
»Still, Ethan – es sind Kinder anwesend«, unterbrach ihn Victoria. »Am besten ist es, wenn du Sanjas Wutanfälle einfach ignorierst – ich möchte ihn nicht verlieren!«
»Das weiß er genau und treibt Spielchen mit dir, die du dir einfach gefallen lässt!«
»Nein, selbstverständlich nicht – aber niemand kocht Rindervindaloo so gut wie er!«
»Was für ein Gericht?«, fragte Tara verständnislos.
»Ein furchtbar scharfes Fleischgericht mit Curry«, erklärte Ethan. »Und wenn ich den Duft richtig deute, ist er gerade dabei, für heute Mittag eines zu machen.«
»Aber ich esse keinen Curry!«, stieß Tara entsetzt hervor.
Ethan lachte leise. »Dann werden Sie hier verhungern müssen – Sanja streut Curry in jedes Gericht, und das meine ich wörtlich.«
Tara blickte zu den Kindern hinüber. Wenn sie nicht allehungern wollten, tat sie gut daran, ihre Kochkenntnisse aufzufrischen! Doch plötzlich kam ihr ein alarmierender Gedanke: Sie hatte doch überhaupt keine Kochkenntnisse!!
12
K urz vor Mittag betrat Riordan Magee mit der Morgenzei- tung unter dem Arm die Galerie, um sich sogleich in sein Büro zurückzuziehen. Kelvin Kendrick, der gerade mit einem Kunden beschäftigt war und nur einen kurzen Blick auf seinen Arbeitgeber werfen konnte, fühlte, wie er vor Scham errötete. Er dankte dem Himmel, dass der Kunde mit dem Rücken zu Riordan stand, denn dieser sah mit seinen ungekämmten Haaren und dem verschlissenen, abgetragenen Regenmantel eher wie ein Herumtreiber aus denn wie der Besitzer der renommierten
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