Der Ruf des Abendvogels Roman
wo Nerida hingegangen ist?«
»Wahrscheinlich mit ihrem Stamm auf Wanderschaft«, ließ sich Rex vernehmen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Tara. »Normalerweise ist sie sehr verlässlich, aber heute Morgen hat sie gesagt, ihr ginge es nicht gut. Ich hoffe nur, dass mit ihr alles in Ordnung ist!«
»Sie muss wirklich mit ihren Leuten gegangen sein«, meinte Ethan und sah ihr direkt in die Augen. Sein Blick war so intensiv, dass ihre Knie unter ihr nachzugeben drohten. »Wenn sie sich nicht wohl fühlt, ist sie wahrscheinlich bei Kitty Koko. Sie ist so etwas wie eine Krankenschwester für die Aborigines auf dem Missionsgelände. Sie kennt sich im Busch sehr gut aus und ist eine sehr nette Person.«
Ethan hatte gebadet und war frisch rasiert. Tara dachte daran, wie seine Arme sie umschlungen gehalten hatten, fühlte in der Erinnerung wieder seine Lippen auf den ihren, und ihr wurde warm.
»Sie müssen Tara Flynn sein«, sagte Rex. »Wir sind uns noch nicht offiziell vorgestellt worden. Hier scheint niemand zu wissen, was Manieren sind!« Dabei warf er Ethan einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Tara, das hier ist Rex Crawley«, stellte Ethan sie vor.
Rex fügte prompt hinzu: »Ich bin der offizielle Postbote für diese Gegend.«
Tara sah, wie Ethan die Augen verdrehte, und bemühte sich, ernst zu bleiben.
»Ich habe per Funk alles über Sie gehört, Tara«, fuhr Rex fort. »Jeder Neuankömmling ist natürlich Hauptgesprächsthema.«
Tara fragte sich, was wohl über sie geredet wurde, doch sie brachte es nicht über sich, danach zu fragen. »Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Rex«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen.
»Setzen Sie sich doch«, meinte Rex und bot ihr seinen Platz an, doch Ethan hatte zu seinem Ärger schon einen Stuhl für sie geholt. Die Rivalität zwischen den beiden schien sich auf alle Bereiche zu erstrecken.
»Sie sind hier im Outback eine lebende Legende, Mr. Crawley«, sagte Tara und zwinkerte Jack zu, der sich mit Hannah zu ihr gesellte.
Rex müde Züge hellten sich sichtlich auf. »Hörst du, Ethan Hunter?«, rief er und versetzte dem Freund einen Rippenstoß.
Ethan warf Tara einen völlig verzweifelten Blick zu, und sie musste sich sehr beherrschen, um nicht zu lachen.
»Lass doch Tara von deinem Eintopf probieren«, sagte Ethan zu Nugget.
Tara horchte auf. Ethan sah aus, als führe er etwas im Schilde. »Was für ein Eintopf ist es denn?«, fragte sie skeptisch.
»Guter Braten«, erwiderte Nugget grinsend. Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass es sich um etwas in ihren Augen eher Exotisches handelte.
Als sie wieder zu Ethan hinübersah, starrte dieser betontdesinteressiert nach draußen auf den schlammigen Boden, doch einer seiner Mundwinkel war leicht hochgezogen. Auch Jack grinste, und Tara kam ein schrecklicher Gedanke. »Sie haben doch wohl keine ... Heuschrecken gekocht, Nugget?«
Der Viehtreiber rührte lachend den Eintopf um. »Sie schmecken wirklich gut, Missus!«
Tara verzog das Gesicht. »Glaubt nur nicht, dass ich irgendetwas davon esse!«, stieß sie hervor, und die Männer lachten herzlich.
Tara verzichtete tatsächlich auf den Eintopf, der trotz Nuggets gegenteiliger Beteuerungen verdächtig nach Heuschreckensuppe aussah. Man hörte sogar knackende Geräusche, als die Männer ihn aßen.
Tara und die Kinder verzehrten dagegen genüsslich ihre Lammkoteletts. Nach dem Essen setzte Ethan sich neben sie; er und Rex hatten sich zu Jacks Vergnügen ein Wortgefecht geliefert. Der Junge hatte so viel gelacht, dass ihm davon nun der Bauch weh tat. Doch jetzt hatten Rex und die anderen Männer angefangen, Karten zu spielen, und es schien um hohe Einsätze zu gehen.
»Hat deine Mutter sich ein wenig eingewöhnt?«, erkundigte sich Ethan beiläufig.
»Es ist noch zu früh, dazu etwas zu sagen«, erwiderte Tara. »Sie möchte zwar gern bleiben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es auch nur eine Woche hier aushält, geschweige denn die lange Zeit bis Weihnachten.«
»Ich hätte auch nie gedacht, dass du es mehr als einen Tag hier aushältst, als ich dich vor dem Wombat-Creek-Hotel im Staub fand«, meinte er und zwinkerte ihr zu, »aber du bist immer noch hier.«
»Meine Mutter hat bisher ein sehr viel behüteteres Leben geführt als ich«, sagte Tara und wandte den Blick ab. Ethan sollte nicht sehen, welch tiefen Eindruck das Erlebnis mit ihm bei ihrhinterlassen hatte. Wenn er sie nur nicht geküsst hätte ... Jetzt fand sie es fast unmöglich, ein
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