Der Ruf des Abendvogels Roman
drüben im Haus«, beharrte Tara. »Sie sind uns herzlich willkommen, Mr. Crawley.« Sie wandte sich an Ethan. »Und du natürlich auch.«
»Danke Ihnen, Tara«, erwiderte Rex, der erst jetzt die Spannung zwischen ihnen spürte. »Aber Sie haben schon Gäste, und ich denke, Sie werden mit den beiden beschäftigt genug sein, vor allem mit Ihrer Mutter.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu, und Tara lächelte nicht im Mindesten gekränkt zurück. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Fahrt mit ihrer Mutter verlaufen war. Sicher hatte Elsa ihm ziemlich zugesetzt.
»Ein anderes Mal gern.« Rex warf Ethan unter hochgezogenen Brauen einen Blick zu. »Das ist sicher eine nette Abwechslung, wenn man sonst sein Schlafquartier mit einem Mann teilen muss, der wie ein Kamel riecht.«
Ethan starrte ihn finster an, doch er lachte nur.
24
M ama, Mama, hilf mir!«
»Wo bist du, Jack?«, rief Tara. »Ich kann dich nicht sehen!«
»Hier drüben, Mama! Hol mich hier raus!«
Seine Stimme schien aus großer Entfernung zu kommen und klang in der Stille der Nacht noch lange nach. Tara stolperte durch den Busch, wo die Dornen der Akaziensträucher ihr den Rock zerrissen und tote Eukalyptusbäume wie stumme Wächter in den Himmel ragten. Kängurus und Emus kreuzten ihren Weg und blieben einen Moment neugierig stehen, bevor sie sich eilig in den Schutz der Dunkelheit zurückzogen.
Tara spürte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. »Jack, ich kann dich nicht finden!«, rief sie voller Angst. Dann spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Knöchel, als sie über einen Stein stolperte und einen ungewollten Sprung nach vorn tat. Im letzten Moment merkte sie, dass vor ihr im Boden ein tiefschwarzes Loch gähnte, in das sie beinahe hineingefallen wäre. Irgendwo in seinen düsteren Tiefen tropfte Wasser. »Jack!«, rief sie wie gelähmt vor Angst, und ihr Herz raste. »Bist du da unten?« Ihre Worte hallten dumpf von den gewölbten Wänden wider.
Tara hörte Jack husten und dann gurgelnde Laute. »Mama, hilf mir, hilf mir! Ich kann nicht schwimmen! Bitte hol mich raus!«
Nackte Panik stieg in Tara auf, sie war vollkommen hilflos. Verzweifelt überlegte sie, wie sie Jack retten könnte, allein, das wusste sie, würde sie es nie schaffen.
»Jack, halte durch – ich hole Hilfe!«, rief sie. Wieder hörte sie einen gurgelnden Laut, als Jack unter Wasser sank, und dann herrschte plötzlich Stille – absolute, grausame Stille.
Tara schrie auf, fuhr hoch und streckte die Arme aus. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass sie in ihrem Bett saß und ihr der Schweiß über Stirn und beide Wangen lief.
»Es war nur ein Albtraum«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen und barg ihr Gesicht in den Händen. Es war die dritte Nacht in Folge, dass sie diesen schrecklichen Traum hatte, und jedes Mal war sie bis ins Mark erschrocken. Ihr Herz pochte noch immer rasend schnell gegen ihre Rippen, denn die Bilder des Traums standen ihr noch erschreckend klar vor Augen. Sie wusste, dass dies kein normaler Traum sein konnte – dazu war er viel zu realistisch gewesen. Trotzdem versuchte sie verzweifelt, sich vom Gegenteil zu überzeugen.
Während sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser bespritzte, sagte sie sich, dass sie unbewusst wahrscheinlich Angst hatte, die Kinder zu verlieren, und deshalb diese Dinge träumte. »Gott sei Dank gibt es hier in der Gegend keinen so tiefen Schacht«, sagte sie sich. Sie hatte Bluey, Charlie und sogar Tadd gefragt, ob sie von einem solchen Loch wüssten, doch sie hatten alle verneint.
Am Fuß der Treppe begegnete sie kurz darauf ihrer Tante, die so aufgeregt wirkte, wie Tara sie noch nie gesehen hatte.
»Percy Everett hat mir gerade über Funk etwas mitgeteilt«, stieß sie atemlos hervor. »Es ist ein Telegramm von William Crombie angekommen. Er will, dass wir ihm so schnell wie möglich eine Ladung Wolle nach Indien schicken. Ist das nicht wunderbar, Tara?«
Tara stand noch so sehr unter dem Eindruck des Albtraums, dass sie nur nicken konnte.
»Anscheinend hat William bereits in seinem letzten Brief um eine Wollprobe gebeten, aber jetzt sollen wir ihm einfach nur so schnell wie möglich hundert Ballen Merinowolle schicken.«
»Das ist wirklich wunderbar, Tante Victoria«, brachte Tara endlich hervor. Fast war sie versucht, ihr zu gestehen, dass sie den ersten Brief inzwischen gelesen hatte. Aber dann würde sie noch viel mehr Dinge offen legen müssen.
»Es ist die beste Nachricht, die ich
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