Der Ruf des Abendvogels Roman
seit langer, langer Zeit erhalten habe, aber andererseits ... Himmel, es gibt jetzt so viel zu organisieren! Erst einmal müssen tausend Schafe zusammengetrieben werden, und dann muss ich die Scherer und einen Wollgutachter benachrichtigen. Hier hätten wir die Wolle nicht mehr verkaufen können, aber so kommen wir wahrscheinlich durch die nächste Saison. Nach dieser herrlichen Neuigkeit und dem Regen gestern sehe ich mit viel mehr Optimismus in die Zukunft. Ich glaube, du hast uns von Irland viel Glück mit herübergebracht, Tara!«
Tara musste an die Schulden bei der Bank denken, und es versetzte ihr einen Stich. Wie sollte sie ihrer Tante nur beibringen, dass praktisch keine Hoffnung bestand, die Farm zu behalten, egal wie viel Wolle sie an William Crombie exportierten?
»Was ist los, mit dir, Tara?«, fragte Victoria stirnrunzelnd. »Du siehst heute Morgen sehr seltsam aus.«
»Mir geht es gut, Tante Victoria – ich bin nur etwas müde.«
»Ganz sicher? Du bist reichlich blass!«
»Ich hatte heute Nacht wieder einen Albtraum, das ist alles.«
»Oh nein! Diese Träume müssen noch Folgen dieser schrecklichen Erlebnisse auf dem Schiff sein! Sie werden bestimmt mit der Zeit vergehen. Wenn du nur nicht krank wirst – du willst doch das Wohltätigkeitsfest und die Kamel- und Pferderennen nicht versäumen, oder? Es ist das gesellschaftliche Ereignis hier draußen. Aus irgendeinem Grund haben sie es in diesem Jahr vorgezogen. Nugget und die Jungen haben sich schon auf den Weg in die Stadt gemacht. Sie reiten mit und behaupten, ihre Pferde brauchen eine ruhige Nacht vor den Rennen, damit die Tiere morgen früh frisch sind. Ich nehme eher an, dass sie die Kartenspiele nicht versäumen wollen, die heute Nachmittag schon anfangen. Wennich an die viele Arbeit in der nächsten Woche denke, freut es mich sehr, dass sie diese Zeit haben, um mit unseren Nachbarn zusammenzusein. Heute Abend wird bestimmt sehr viel getrunken werden, und morgen früh leiden dann mit Sicherheit einige unter den Nachwirkungen. Wir selbst brechen gleich nach dem Frühstück auf und müssten, wenn alles gut geht, am späten Abend dort sein. Ich freue mich riesig darauf, all diese Leute wiederzusehen!«
»Tante Victoria, hast du vielleicht Jack irgendwo gesehen?«, fragte Tara, als sie eine halbe Stunde später ins Esszimmer kam. Eigenartigerweise tat ihr der Knöchel weh, ohne dass sie es sich hätte erklären können, was ihren Traum umso realer erscheinen ließ. Sie und Hannah waren mittlerweile angezogen, doch Jack hatte sie nirgends finden können. »Er wird doch nicht mit den Männern geritten sein?«
»Nein, Liebes, da bin ich absolut sicher. Ich hatte es dir eigentlich nicht sagen wollen, aber er scheint heute Morgen als Allererstes mit Tadd aneinander geraten zu sein. Ich habe gehört, wie Tadd ihn anschrie. Tadd hat das jähzornige Temperament der Iren ... Vielleicht wollte Jack daraufhin ein Weilchen allein sein – er ist so ein sensibler Junge!«
»Aber was hat Jack denn getan, dass Tadd so erbost war?« Tara hatte nicht ein einziges Mal mehr Schwierigkeiten mit Jack gehabt, seitdem sie sich einige Tage zuvor ausgesprochen hatten. Im Gegenteil, er war höflich und fügsam gewesen und hatte eifrig darauf bestanden, ihr bei der Arbeit zu helfen, unter anderem beim Aufräumen des Gartens und beim Säen neuer Pflanzen nach der Heuschreckeninvasion. Tara hatte ihm immer wieder gesagt, er müsse sich jetzt nicht doppelt anstrengen, um sein früheres Verhalten wieder gutzumachen, doch es schien ihm ein wirkliches Bedürfnis zu sein.
»So genau weiß ich es nicht – am besten fragst du Tadd selbst danach. Aber er sagte irgendetwas wie, dass Jack Mellie und dieWelpen zu sehr verwöhnt. Anscheinend hat Tadd heute Morgen schon ganz früh mit den Welpen trainiert, weil er hofft, morgen in der Stadt einen Käufer zu finden, und er behauptete, Jack habe sie abgelenkt. Mellie scheint Jack sehr gern zu haben und folgt ihm überall hin.«
»Das ist sicher für beide nicht schlecht, Tante Victoria. Mellie war regelrecht hungrig nach Zuwendung, als wir hierher kamen, und ich weiß, dass sie Jack auch gut tut. Er liebt sie einfach heiß und innig.«
»Ich gebe dir Recht, Tara, aber Tadd möchte, dass Mellie wieder bei den Schafen arbeitet, jetzt, wo die Welpen entwöhnt sind. Er hätte sie sicher schon eher wieder mitgenommen, aber dann wäre ihre Milch versiegt.«
»Wo ist Tadd eigentlich? Ich möchte ihn fragen, was los war.«
»Ich weiß
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