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Der Ruf des Abendvogels Roman

Titel: Der Ruf des Abendvogels Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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Jahrelang hatte sie bei den Zigeunern gelebt und nicht einenAugenblick lang daran gedacht, sie könnte tatsächlich eine von ihnen sein!
    »Meine Mutter war eine Seherin«, gestand Elsa flüsternd, als würden die Worte ihr von einer unsichtbaren Macht entrungen. »Sie ist gestorben, als ich zehn Jahre alt war. Die Mutter meines Vaters, eine Schwester des Grafen von Bradford, hat mich aufgezogen.«
    »Du hast mir doch erzählt, deine Mutter sei mit einer Gräfin verwandt gewesen.«
    Elsa stand auf und stützte sich an der Verandabrüstung ab. »Das war eine erfundene Geschichte – meine Großmutter hatte sie sich ausgedacht. Ich habe von klein auf gelernt, meine richtige Mutter niemals zu erwähnen, obwohl ich nicht verstand, warum ich es nicht durfte.«
    Tara war noch immer kaum fähig zu sprechen.
    »Als ich etwa fünfzehn war, kam im Garten des bradfordschen Anwesens eine Zigeunerin auf mich zu, die mir sagte, sie sei meine Großmutter und heiße Amorita. Eloisa war ihre Schwester. Amorita hatte wunderschöne, kupferrote Haare, genau wie deine, und war auch eine Seherin. Sie hat mir von meiner Mutter Celena erzählt und mir diesen Ring gegeben, der Celena gehört hatte.« Elsa hatte diesen Ring immer getragen, einen schmalen, filigranen Goldreif. Tara hatte immer angenommen, er habe ihrer Großmutter gehört, obwohl sie bei den Zigeunern ähnliche Ringe gesehen hatte. »Wir haben ein paar Minuten miteinander gesprochen, bis der Gärtner sie fortjagte. Danach habe ich nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt. Aber ich habe manchmal bemerkt, dass sie mich beobachtete. Sie ist vor dreizehn Jahren gestorben.«
    »Woher weißt du das?«
    »Eloisa hat es mir gesagt.«
    »Und warum hast du mir all das nicht schon viel früher erzählt? Du hast immer so getan, als würdest du die Zigeuner hassen!«
    Wieder schloss Elsa die Augen und kämpfte gegen den Aufruhr der Gefühle an, der in ihr tobte. »Weil man mir beigebracht hat, mich meines Zigeunerbluts zu schämen. Meine Großmutter sagte mir, wenn jemand davon erführe, würde ich es im Leben sehr schwer haben. Die gute Gesellschaft würde mich schneiden, und ich würde auf der Straße angespuckt. Deshalb hat es mir auch das Herz gebrochen, als du damals beschlossen hast, dieses Leben zu leben – und das, wo ich dir all die Jahre über die Wahrheit verschwiegen hatte ...«
    Elsas Großvater hatte Amorita und Eloisa eine ansehnliche Summe für ihr Schweigen bezahlt. Nachdem Amorita sich Elsa genähert und ihr gesagt hatte, wer sie war, war die Zigeunerin von einem Attentäter ermordet worden. Den Täter hatte man nie gefunden. Elsa vermutete, dass ihr Großvater dafür verantwortlich war, doch sie hatte sich bis zu seinem Tod nie überwinden können, ihn danach zu fragen. Und sogar auf seinem Sterbelager hatte er noch geleugnet, auch nur das Geringste mit Amoritas Ermordung zu tun zu haben.
    »Ich wollte mich nie ... minderwertig fühlen müssen«, murmelte Elsa.
    Tara schloss die Augen. Ironischerweise hatte sie sich bei den Zigeunern genau so gefühlt, weil sie geglaubt hatte, nicht dazuzugehören! »Hat Vater davon gewusst?«
    »Oh nein«, erwiderte Elsa erregt. »Wenn ich oder irgendjemand anderer ihm die Wahrheit gesagt hätte, hätte er mich niemals heiraten dürfen, selbst, wenn er gewollt hätte.« Dann fügte sie schuldbewusst hinzu: »Ich weiß, dass ich selbstsüchtig gehandelt und nur an mich gedacht habe. Aber ich liebte deinen Vater sehr, Tara. Er war ein guter Mensch, freundlich und großzügig, vielleicht sogar zu gut für mich. Ich versuchte, meine Scham durch Überheblichkeit zu überspielen, und habe ihm so das Leben schwer gemacht. Ich glaubte, wenn die Leute mich für arrogant hielten, würden sie niemals auf die Idee kommen, dass ich in Wirklichkeit eine Stufe unter ihnen stand.«
    Tara wusste nicht, was sie sagen sollte. »Und warum ... sagst du mir das alles jetzt?«
    »Weil du Jack vielleicht wirklich helfen kannst.«
    Tara starrte ihre Mutter ungläubig an. »Willst du damit sagen, dass ich tatsächlich in die Zukunft blicken kann? Und dass eintreffen wird, was ich gesehen habe?« Entsetzen und namenloser Schrecken stiegen in ihr auf.
    Elsa seufzte leise auf. »Ich habe die Gabe nie besessen, aber es sieht so aus, als ob du sie hättest. Vertraue deinen Gefühlen, Tara, aber sprich mit niemandem darüber.«
    Tara konnte kaum glauben, dass ihre Mutter sich noch immer Gedanken um ihren guten Ruf machte, jetzt, wo Jacks Leben auf dem Spiel stand.

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