Der Ruf des Abendvogels Roman
aus sehen. »Er steckt gerade die Rennstrecke ab. Ich gebe ihm sofort Bescheid!«
Victoria konnte durch Lotties offenes Fenster das Lärmen und Treiben der Menschen in Wombat Creek hören und fühlte, wie ein Schauer der Erregung sie durchlief.
»Sag ihm auch, dass Tadd sich auf die Suche nach dem Jungen gemacht hat«, rief sie. »Aber wir brauchen seinen Rat!«
»Das klingt, als sei es Tadds Schuld, dass das Kind fortgelaufen ist«, erwiderte Lottie. »Mir ist nur aufgefallen, dass er sich in letzter Zeit sehr seltsam benimmt.«
»Wie meinst du das?«, fragte Tara gespannt.
»Vor ein paar Tagen habe ich ihn dabei beobachtet, wie er sich hinter dem Hotel versteckte und irgendetwas las. Offensichtlich wollte er nicht, dass ihn dabei jemand beobachtete. Später ist er nach einigen Gläsern Bier noch herübergekommen und war in einer ganz eigenartigen Stimmung.«
Tara war verwundert. Sie fragte sich, was Tadd gelesen haben mochte und wie er es sich leisten konnte, Lottie und die Mädchen aufzusuchen, wo er schon so lange keinen Lohn mehr bekommen hatte. Der einzige Schluss, zu dem sie kam, war der, dass er einen weiteren Brief der Bank unterschlagen hatte und die Opale verkaufte, um Lottie bezahlen zu können. »Hat er irgendetwas dazu gesagt, was er getan hatte, oder warum?«
»Er war unruhig und konnte nicht ... nun ja, du weißt schon ... Er wirkte einfach besorgt, wenn du weißt, was ich meine.«
Victoria errötete. Sie hatte nicht gewusst, dass Tadd zu den Mädchen ging. »Also, jetzt verstehe ich gar nichts mehr«, sagte sie.
Lottie spürte, dass sie zu viel gesagt hatte, und meinte: »Ich werde Ethan jetzt eure Nachricht bringen – ihr habt es sicher eilig, Jack wieder zu finden!«
»Danke, Lottie«, antwortete Victoria. »Ende.«
Ein paar Minuten später meldete sich Ethan über Funk. »Ich mache mich sofort auf den Weg zur Farm«, sagte er. »Aber ich werde frühestens am späten Nachmittag dort sein können.«
Ethan hatte vor, sich ein schnelles Pferd zu leihen, doch ihmwar klar, dass ihm wegen der Rennen am folgenden Tag niemand gern sein Tier abtreten würde.
»Es tut mir sehr Leid«, sagte Tara. »Ich weiß, dass du in der Stadt gebraucht wirst, aber wir haben schon die ganze Umgebung abgesucht, und Jack ist einfach nicht zu finden. Normalerweise hätte ich dich nicht gestört, aber ich bin ganz sicher, dass etwas Schreckliches geschehen ist.«
»Ich verstehe schon, Tara – und ich habe den Jungen auch sehr gern.« Ethan überlegte ernsthaft, Rex zu bitten, ihn mit dem Wagen nach Tambora zu bringen. Obwohl er sich regelrecht vor der Fahrt fürchtete, würde es schnell gehen, und es konnte sein, dass Jacks Leben in Gefahr war.
»Glaubst du, dass Jack zu deiner Hütte geritten ist?«, wollte Tara wissen.
»Saladin ist dort und kümmert sich um die Kamele. Ich habe gerade über Funk mit ihm gesprochen, aber er sagt, er hat Jack nicht gesehen. Ich habe ihn gebeten, zu euch zu reiten und euch bei der Suche zu helfen, bis ich dort bin.«
Tara fühlte, wie ein kalter Schauder sie durchlief. Sie wollte Saladin nicht sehen. »Das ist nicht nötig«, erklärte sie.
Ethan hörte das Unbehagen in ihrem Ton. »Er ist ein sehr guter Spurenleser, Tara, und die Zeit drängt. Ich will euch keine Angst machen, aber je länger Jack dort draußen herumirrt, desto weniger Chancen hat er, zu überleben.«
»Aber Tadd hat sich schon auf die Suche gemacht ...«
»Dies ist ein weites Land, Tara. Vielleicht wären selbst hundert Männer zu wenig, um Jack zu finden, und wenn er nicht innerhalb von zwölf Stunden gefunden wird, kann es zu spät sein. Ich habe ihm eingeschärft, niemals ohne Wasser loszureiten, aber wenn er aufgeregt und durcheinander war, wird er wahrscheinlich keine Feldflasche mitgenommen haben.«
Tara wusste, dass er Recht hatte. Sie musste ihre persönlichen Gefühle beiseite lassen, denn Jacks Leben war in Gefahr. »Gut – ich tue, was immer du sagst, Ethan. Wir müssen ihn finden, bevorer ...« Ihr Traum verfolgte sie noch immer, und die Angst saß ihr wie ein schwerer Klumpen in der Kehle.
»Ich mache mich sofort auf den Weg, Tara«, erklärte Ethan. »Wenn er bei Anbruch der Dämmerung noch nicht gefunden ist, rufe ich über Funk alle Männer in der Stadt zu Hilfe.«
Tara wünschte insgeheim, er wäre schon bei ihnen in Tambora, aber selbst der beruhigende Klang seiner Stimme war ihr schon ein großer Trost. Er würde verhindern, dass Jack etwas geschah, dessen war sie sich ganz
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