Der Ruf des Abendvogels Roman
Leuten die Karten gelegt. Aber in der Nacht, als das Schiff sank, habe ich von einem Brand geträumt. Ich kannte sogar die Zahlen an der Kabinentür, in der das Feuer ausbrach, wenn auch nicht in der richtigen Reihenfolge. Ich habe diese Kabine dann auf dem Unterdeck gefunden, sie lag von meiner Kabine aus ein Stück den Flur hinunter, und konnte die Passagiere und die Mannschaft warnen – sonst wären noch sehr viel mehr Menschen umgekommen, die Kinder und mich eingeschlossen.«
Elsa erschrak sichtlich und musste sich an der Verandabrüstung festhalten, da sie leicht ins Schwanken geraten war.
»Was ist mit dir, Mutter?«, fragte Tara. »Du siehst aus, als ob dir ein Geist erschienen wäre.«
»Ich glaube, es liegt an der Hitze«, log Elsa.
Tara wandte sich wieder um und starrte in die Ebene hinaus.Sie umklammerte die Brüstung so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Ich habe ein schreckliches Gefühl bei dieser Sache, Mutter.« Sie verstummte einen Moment, um dann mit gehobener Stimme hinzuzufügen: »Ich muss etwas unternehmen! In meinem Traum ertrinkt Jack, weil ich nicht zu ihm gelangen kann.«
»Gibt es denn irgendwo auf der Farm ein solches Loch im Boden, Tara? Einen alten Brunnen oder einen Bergwerkschacht?«
»Ich habe Nugget und Ethan noch nicht gefragt, aber Tadd, Bluey und Charlie behaupten, dass es hier so etwas nicht gibt. Wahrscheinlich bin ich nur hysterisch und mache mit völlig unnötig Sorgen. Bestimmt haben meine Träume gar nichts zu bedeuten, aber ...« Sie erschauderte und schlag die Arme um ihren Körper. »Warum werde ich dann das Gefühl nicht los, dass etwas Schreckliches passieren wird?«
»Tara«, erklärte Elsa plötzlich sehr ernst, »ich denke, es wäre klug, deinen Ahnungen zu vertrauen.«
Tara war verblüfft. Warum hatte ihre Mutter ihre Meinung plötzlich geändert? »Aber warum denn, Mutter? Gerade hast du doch noch gesagt, es sei sicher nur ein Traum gewesen!«
Elsa sah sie eindringlich an. »Nur um ganz sicher zu sein. Wenn wirklich Hinweise in deinem Albtraum versteckt waren, dann lass es von irgendjemandem nachprüfen oder tu es selbst ... Manche Menschen haben tatsächlich die Gabe, in die Zukunft zu blicken.«
Tara wandte sich ab und suchte in dem weiten Land nach irgendeinem Anzeichen von Bewegung. Sie bemerkte kaum, dass ihre Mutter plötzlich sehr beunruhigt wirkte.
»Eine alte Zigeunerin hat mir einmal gesagt, ich ... ich hätte ebenfalls Zigeunerblut in den Adern«, meinte Tara so leise, als spreche sie zu sich selbst. »Aber das kann ja nicht wahr sein ...«
Elsa ließ sich in einen der Korbstühle sinken. »Eloisa«, flüsterte sie so leise, dass Tara sie nur mit Mühe verstand. Erstaunt darüber, dass ihre Mutter die alte Zigeunerin kannte, wandte siesich Elsa zu und starrte sie an. Erschrocken stellte sie fest, welche innere Zerrissenheit sich plötzlich auf Elsas Zügen spiegelte.
»Du kennst ... Eloisa?« Tara bezweifelte, dass es sich um dieselbe Frau handeln konnte, die ausgestoßene Zigeunerin.
Elsa antwortete ihr nicht.
In Tara stieg ein Verdacht auf, und sie sagte drängend: »Mutter, Jacks Leben ist vielleicht in Gefahr. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann tu es jetzt, bevor es zu spät ist!«
Elsa schloss die Augen und versuchte, die Wahrheit zurückzudrängen, die sie so viele Jahre lang sorgfältig vor ihrer Umwelt verborgen hatte. Tara stand vor ihr und beobachtete sie genau. »Ist es wahr, Mutter? Habe ich wirklich Zigeunerblut in den Adern?«
Elsa bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, und Tara stieß erleichtert den Atem aus, den sie vor Spannung angehalten hatte. Doch sie täuschte sich. Sie hatte nicht erkannt, dass Elsas Kopfschütteln nur der Versuch gewesen war, die Wahrheit noch länger zu leugnen.
Tara wandte den Blick nicht von ihrer Mutter, die am Rande eines Nervenzusammenbruchs zu stehen schien. Schließlich begann Elsa heftig zu schluchzen.
»Es ist wahr – Gott vergebe mir!«
Tara ließ sich gegen die Brüstung sinken, die Augen weit aufgerissen und mit vor Staunen geöffnetem Mund. Sie war vollkommen verblüfft.
Elsa blickte zu ihr auf, in Minuten um Jahre gealtert. »Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal jemandem sagen würde – es ist nur, weil Jack in Gefahr schwebt, sonst wäre es niemals über meine Lippen gekommen.« Dass sie sich mitten im Nirgendwo befanden, hatte ihr den notwendigen Mut gegeben, die Wahrheit zu sagen.
Tara war noch immer zu verwirrt, um etwas zu sagen.
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