Der Ruf des Bösen: Die Erleuchtete 2 - Roman (German Edition)
das Bewusstsein, es entglitt mir langsam, ganz langsam, bis sich vollständige Finsternis um mich legte. Aber ich bewegte mich immer noch, irgendetwas, irgendjemand trieb mich an, zog mich mit sich. Alles wurde dunkel und taub.
Und dann war ich weg.
Eine Gruppe von Gesichtern blitzte über mir auf, jedes noch viel schöner und erschreckender als das vorherige. Sie drängten sich nebeneinander, umzingelten mich. Unter ihnen gab es bekannte Schwergewichte – wie Wylie und die zauberhafte Clio –, aber auch erst kürzlich eingeführte Mitglieder, die nicht weniger furchterregend waren, zum Beispiel die große Brünette, die Lance und ich vom Schmuckladen aus beobachtet hatten, und dieser blonde Kerl, in den sich Jimmy verwandelt hatte. Am Rande der Gruppe standen langbeinige blonde Frauen und skrupellose, durchtrainierte Sportlertypen. Ich zählte etwa ein Dutzend perfekte, symmetrische Gesichter mit wie aus Stein gehauenen Wangenknochen und beneidenswertem Äußeren, die ich aus der Kneipe und – noch viel wichtiger – vom Ritual auf dem Friedhof kannte.
Mein Körper war völlig taub, ich lag in einer Gasse seitlich an eine Ziegelwand gelehnt. Um mich herum konnte ich immer noch das Getöse der Feier, die Party auf der Straße hören. Am liebsten hätte ich laut geschrien, aber ich brachte nicht einmal genug Kraft auf, um den Mund zu öffnen oder meine Lunge mit Luft zu füllen. Und was noch viel furchtbarer war: Irgendwann wurde mir klar, dass mich durch die dröhnende Blasmusik, den pulsierenden Rhythmus und den Jubel der Menge sowieso niemand hören würde. Die einzige Empfindung, die ich registrierte, stammte von meinen Narben. Vor allem die auf meiner rechten Schulter pochten wütend, als wolle dort etwas meine Haut durchbrechen und entfliehen.
Die Gesichter über mir lächelten.
»Hiiiii, Haven, wir freuen uns, dass du heute Abend dabei bist. Du hast ja keine Ahnung, wie lange wir schon auf dich warten«, sagte Wylie mit unheimlicher, zuckersüßer Stimme. »Ehrlich gesagt waren einige von uns so ungeduldig, dass wir beinahe zu früh mit dir angefangen hätten.« Er sah Clio an, die nur mit den Achseln zuckte, während sich ein wildes Grinsen auf ihren Zügen ausbreitete.
»Versuchen kann man’s ja mal. Ich wusste einfach, dass wir mit ihr viel Spaß haben würden.« Sie kniete sich hin und säuselte mir etwas zu. Ihre Cowboystiefel waren dabei auf einer Höhe mit meinen Augen.
»Ich bin sicher, dass du dich noch an die liebe Clio erinnerst. Du hast mich manchmal auf dem Friedhof getroffen.«
Also war sie es gewesen, die mich an dem einen Abend aus dem Nichts heraus angegriffen und dann versucht hatte, mich vom Tor wegzuzerren.
»Ah, mach dir mal keine Sorgen. Dir wird’s gleich besser gehen, Schätzchen«, versicherte sie nun mit süßer Stimme. »Wir haben heute noch so einiges vor.«
Mit hungrigen Augen tauschte die Gruppe Blicke.
»Herzlich willkommen bei der Krewe«, meldete sich nun Jimmy zu Wort und streckte die Hand aus, um mir übers Haar zu streichen.
Mein Verstand, mein Sehvermögen, alles setzte aus.
Jetzt raste ich mit der Meute durch die Straßen. Auch Lucian war dabei. Er streckte die Hand aus und griff nach der meinen, lief an meiner Seite. Der Wind fuhr mir durchs Haar und bauschte mein Kleid. Es kam mir vor, als würde ich fliegen, und ich sah nach unten, um mich zu vergewissern, dass meine Füße noch immer den Boden berührten. Was hatte ich denn da an? Ich hatte für das Abendessen kein Kleid angezogen, aber jetzt trug ich eines, das so ähnlich aussah wie Clios: Es war kurz, eng, mit ausladendem Minirock und einem wilden, bunten Muster. Meine Füße steckten in Stiefeletten – solchen, von denen ich nie gedacht hatte, dass ich darin laufen, geschweige denn rennen könnte. Mein Outfit wäre perfekt für diesen Abend gewesen – schließlich schien die Temperatur immer weiter zu steigen, seit wir aufgebrochen waren, falls es nicht mein Körper war, der da glühte – und auch perfekt im Allgemeinen, wenn ich jemand anders gewesen wäre, eins von diesen Mädchen, die wissen, wie man sich amüsiert, die immer so locker und entspannt wirkten, die vor nichts Angst hatten, sich nahmen, was und wen sie wollten. Und manchmal wünschte ich mir ja auch, so ein Mädchen zu sein. Heute hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass diese Rolle zu mir passte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie oder warum das so gekommen war, aber es fühlte sich gut und befreiend an.
Als wir weiter durch
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