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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Gangster, der Lastwagen klaute und den Inhalt in den Bergen verscherbelte oder verschenkte und sich dabei vorkam wie Robin Hood.
    Ja, Tano hat die deutsche Lehrerin Susanne Schuster entführt!, sagte ich mir. Der hat vor zwei Nächten, vermutlich mit dieser Truppe, fünf junge Guerilleros getötet. Der tötet! Und wenn er erfahren würde, dass im Hubschrauber Leandro Perea, El Gran Guaquero, und seine Tochter saßen, dann wäre der blutige Ausgang dieser Begegnung gewiss. Solche Goldesel würde er sich nicht entgehen lassen. Nie war mir ein Mensch fremder und unheimlicher vorgekommen als Tano Dagua, der kleine, sehnige Mann mit den fremdartigen indianischen Zügen.
    »Bitte«, sagte er mit einer Stimme wie vergifteter Honig, »nehmt eure Sachen. Ihr seid Gäste in diesem Land. Euch wird nichts geschehen.«
    Mein Vater ließ Clara los und schnürte seine Arztkoffer und den Beutel mit unseren paar Habseligkeiten vom Pferd.
    Unterdessen sagte Tano ein paar Worte zu Clara, die ich nicht verstand. Aber seine Handbewegung war eindeutig. Sie sollte aufs Pferd steigen.
    »Sie ist nicht transportfähig!«, sagte mein Vater schnell.
    Tano hob das Kinn und musterte meinen Vater. »Du bist der Arzt?«
    »Ich bin Arzt«, antwortete mein Vater. Seine Stimme klang rau, ein verstecktes Zeichen von Unsicherheit. Noch nie hatte ich so deutlich wie jetzt gespürt, dass mein Vater Angst hatte. Vielleicht fürchtete er um sein Leben, aber noch mehr, dessen war ich mir sicher, hatte er Angst um meines. Hatten wir nicht meiner Mutter versprochen, vorsichtig zu sein und gesund heimzukommen? Daran dachte auch ich.
    »Du willst sie in Bogotá behandeln?«, erkundigte sich Tano mit einem überlegenen Lächeln. »Wird sie gesund werden?«
    »Wenn sie das hat, was ich vermute, wird sie ein normales Leben führen können. Aber sie wird Medikamente brauchen.«
    Tano nickte. Dann geschah das, wovor ich die ganze Zeit Angst gehabt hatte: Sein Blick heftete sich auf mein Gesicht. Er streckte die schwielige Hand aus und fasste mich am Kinn.
    »Und das ist dein Töchterchen?«
    Ich konnte nicht anders, ich befreite mich mit einem Ruck.
    Tano lachte, wie man über die Purzelbäume von jungen Katzen lachte.
    Mein Vater musste seine Stimme erst freihusten. »Ja, das ist meine Tochter«, antwortete er.
    »Und wenn«, fragte Tano mit freundlicher Heimtücke, »wenn ich sie jetzt mitnehmen würde und würde ihr ein Lebenselixier geben und sie würde ein langes glückliches Leben führen in den Bergen, würdest du sie mir dann anvertrauen?«
    Was auch immer mein Vater jetzt sagte, es wäre verkehrt. Sagte er Ja, hätte er mich verkauft, sagte er Nein, mussten wir Clara herausgeben.
    Mein Vater blinzelte, sein grauer Bart sträubte sich, mit schmalen Augen sagte er bedächtig: »Du kannst ihr kein Lebenselixier geben, genauso wenig wie ich deiner Nichte Clara ihre Gesundheit zurückgeben kann. Das kann nur Gott.«
    Tano lachte anerkennend. »Du hast einen klugen Vater, Jasmin«, sagte er und musterte mich erneut eingehend. »Und du bist also das Mädchen, in das sich mein Neffe Damián verliebt hat.«
    Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Woher wusste er das?
    »Bist du genauso klug wie dein Vater? Dann beantworte mir eine Frage.«
    Ich fühlte, wie ich inwendig zu zittern anfing. Erst zitterte es nur in meinem Bauch, dann breitete es sich in meine Arme und Beine aus und stieg bis in meine Kinnlade hoch. Ich biss die Zähne aufeinander.
    »Hat meine Schwiegermutter Juanita ... du kennst Juanita?«
    Ich nickte.
    »Hat sie dir von den sieben Leben der Liebe erzählt? Schrecken, Blindheit, Wandlung, Erfüllung ... was kommt dann? Richtig: Zerstörung, Opfer und Erlösung.« Tano nahm das Gewehr von der Schulter, rammte den Kolben in den Boden und stützte sich mit beiden Händen auf die Mündung. »Es ist eine alte Weisheit meines Volks, der Nasas. Hast du von Uyu gehört, das ihr Tierradentro nennt?«
    Ich nickte wieder. Ich konnte nicht anders.
    »Es ist nicht weit von hier. Dort befinden sich in ausgemalten Höhlen die Gräber unserer Vorfahren. Die Zeichen und Inschriften sind unsere Bibel. Da steht die Geschichte von e’tscuë , dem Kolibri, und e’shavy , dem Bären. Sie liebten einander zärtlich, aber die Familie der Kolibris sah es mit Angst und Schrecken, denn die Bären vernichteten die Blüten, um an die Süße in den Zweigen zu kommen, und waren ihre Feinde. Aber auch die Bären waren gegen die Verbindung, denn die Kolibris klauten ihnen den

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