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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Eingeweiden. In wenigen Minuten war es so weit. Dann kam der Abschied für immer. Wie sollte ich das überleben?
    Doch dann geschah etwas, das mich meine stummen Fragen ohne Antworten schlagartig vergessen ließ.
    Es passierte alles gleichzeitig, aber dass etwas passieren würde, erkannte ich zuerst daran, dass die Gesichter der Kinder, Alten und Frauen, die bislang dem Hubschrauber zugewandt waren, herumfuhren und uns bleich entgegenstarrten. Gleichzeitig warfen die vier Bodyguards ihre Zigaretten weg und brachten ihre Maschinenpistolen und Pumpguns in Anschlag. Wollten sie uns niedermetzeln?
    Nein, denn hinter uns kam im donnernden Galopp etwa ein Dutzend Reiter aus dem Wald den Hang herab.
    Elena stieß einen Schrei aus. Leandro sprang vom Pferd, zog seine Tochter aus dem Sattel und schrie: »Zum Hubschrauber! Schnell!« Mit Elena an der Hand rannte er los.
    Mein Vater fiel mehr aus dem Sattel, als dass er abstieg. Ich sprang ab und zog ihn auf die Füße. Er wankte. Er hatte sich offenbar den Fuß verknackst. Inzwischen waren Elena und ihr Vater bei den Bodyguards angekommen. Sie winkten uns hektisch zu.
    Es waren wilde Gestalten, die auf ihren Pferden heranstürmten. Tano und seine Leute! Das wusste ich, ohne dass es mir jemand erklären musste.
    Sie trugen Gewehre.
    Jetzt kapierte es auch mein Vater. »Komm!«, schrie er und zog mich am Arm zum Hubschrauber. Aber er humpelte so, dass wir es nicht schaffen würden, hinter die Reihe der Bodyguards mit den Gewehren im Anschlag zu gelangen, bevor die Reiter am Haus ankamen.
    Und wo waren Clara und Damián?
    Ich drehte mich um. Clara saß noch auf dem Pferd, offenbar gelähmt vor Angst. Damián stand bei ihr und blickte der heranstürmenden Horde entgegen. Er kehrte mir den Rücken zu. Clara und er standen genau in der Schusslinie zwischen den Bodyguards und Tanos Männern.
    »Damián, Clara!«, schrie ich. »Kommt!«
    Ich wollte zurück, aber mein Vater hielt mich fest. »Das ist nicht unsere Sache«, sagte er. »Das ist eine Sache zwischen ihm und seinem Onkel.«
    »Natürlich ist das unsere Sache!«, schrie ich. »Und glaubst du wirklich, im Hubschrauber sind wir sicher?«
    Ich riss mich los und rannte zurück.
    »Jasmin!«, schrie mein Vater angstvoll und kam mir hinterhergehumpelt.
    Damián blickte sich nach uns um. Zum ersten Mal seit dem Morgen schaute er dabei auch mich wieder an. Mir wurde fast schwindlig vor Glück, auch wenn es der Situation völlig unangemessen war.
    Mein Vater packte mich erneut und zog mich Richtung Hubschrauber. Ich sträubte mich mit Händen und Füßen.
    »Komm wenigstens aus der Schusslinie raus!«, brüllte er mich an. Er wollte mich zum Haus ziehen. Ich spürte es kaum.
    Lächelte Damián? Ich weiß es nicht.
    Jetzt hob er die Hand und bedeutete meinem Vater und mir, stehen zu bleiben. Es war eine gebieterische Geste. Wir gehorchten. Damián drehte Claras Pferd mit dem Kopf zu uns und gab ihm einen Schlag aufs Hinterteil. Es setzte sich in Trab. Ich fing es ab und half Clara aus dem Sattel.
    »Zum Hubschrauber!«, rief Damián uns zu. Aber Clara war auf die Knie gesunken. Sie zitterte fürchterlich. Ich konnte sie zwar auf die Füße ziehen, aber laufen konnte sie nicht. Und mein Vater konnte auf seinem verknacksten Fuß auch nicht richtig auftreten. Wir hatten keine Chance mehr.
    Die Reiter hatten die Talsohle erreicht.
    Der vorderste parierte sein Pferd im vollen Galopp. Steine und Erde spritzten. Der Trupp hinter ihm kam ebenfalls zum Stehen, manche Pferde stiegen. Es waren verwegene Gestalten, die mit ihren Gäulen verwachsen schienen. Viele trugen die ledernen Chaps der Cowboys an den Beinen, einige schienen einfache Bauern zu sein, manche trugen Tarnhosen oder Militärjacken. Der Mann auf dem Vorpferd war nicht sonderlich groß, aber sehnig und gut bewaffnet. Er hatte ein langes Gesicht mit buschigen Brauen.
    Ich zweifelte nicht daran, dass das Onkel Tano war.
    Sein Blick glitt über den Hubschrauber mit den vier Bodyguards mit den Maschinenpistolen im Anschlag, über mich, Clara, meinen Vater und das große Haus und kehrte dann zu Damián zurück, der allein auf der steinigen, spärlich bewachsenen Fläche zwischen dem großen Steinhaus und dem glitzernden See stand.
    Tano rief etwas. Aber ich verstand es nicht. Er sprach Nasa Yuwe , die Sprache seines Volks. Es war eine Sprache voller Nasal- und Knacklaute.
    »Er will, dass ich mit ihm zurückkomme«, flüsterte Clara angstvoll. »Er hat gehört, dass ihr mich zu einem

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