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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Honig aus den Blüten. Und so brach ein schrecklicher Krieg aus. Die Kolibris hackten den Bären die Augen aus, und die Bären holten die Kolibris mit einem Prankenschlag aus der Luft, bis der Boden im Wald der Nebelberge übersät war mit smaragdgrünen Leibern der Kolibris, und in ihnen wälzten sich blind und rasend vor Schmerzen die Bären. E’tscuë und e’shavy sahen es und erkannten, dass sie ihre Liebe opfern müssten, damit wieder Frieden herrschte. Weil sie sich aber so sehr liebten, dass sie nicht von einander lassen konnten, beschlossen sie zu sterben. Und erst hackte e’tscuë dem Bären die Augen aus, damit er blind verhungere, und kaum hatte sie das getan, zerquetschte e’shavy den Vogel zwischen seinen Pranken. Erst im Jenseits, wo weder Kolibris noch Bären Honig zum Leben brauchen, werden sie einander wieder begegnen und in Frieden lieben können.«
    Mir klopfte das Herz im Hals. Alles, was ich in den letzten Tagen über Kolibris und Andenbären gehört und von ihnen gesehen hatte, schwirrte in meinem Kopf herum.
    »Und das Traurige an dieser Geschichte«, fuhr Tano fort, »die Feindschaft zwischen den Kolibris und den Bären dauert bis heute fort. Den Opfertod der Liebenden konnte niemand wieder rückgängig machen. Doch Cuene, der Gott des Blitzes, hatte ein Einsehen und stattete die Kolibris mit großer Schnelligkeit aus, damit die Bären sie nicht mehr aus der Luft schlagen konnten, und die Bären mit einer guten Nase, damit sie auch ohne Augen ihre Nahrung finden konnten, und so endete der Krieg.«
    Ich sah Clara zustimmend nicken. »Es ist eine sehr verbreitete Legende.«
    »Ja«, sagte Tano lächelnd. »Und darum gibt es bei uns ein Gesetz. Denn wir wollen, dass von den sieben Leben der Liebe nur die ersten vier gelebt werden müssen. Du kannst dir sicher denken, was das für ein Gesetz ist.«
    Ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als es zu sagen.
    Tano lächelte amüsiert. »Entweder du bist nicht klug genug oder zu klug, es zu sagen. Oder dein Vater hat es dir auch schon gesagt und du hast dich deshalb mit ihm überworfen. Aber du solltest auf deinen Vater hören, so wie Damián auf unsere Alten hören wird.«
    »Bei uns heißt die Legende Romeo und Julia «, sagte ich zornig. »Ein Dichter namens Shakespeare hat sie als Theaterstück geschrieben. Die Kinder zweier verfeindeter Familien verlieben sich ineinander. Aber die Familien wollen es nicht dulden und da bringt Romeo Julia um und vergiftet sich dann selbst. Eine total bescheuerte Geschichte!«
    Tano lachte schallend. Aber es war ein Gelächter, das den Wind die Luft anhalten ließ. Mir fiel plötzlich auf, wie still es in dem Tal war. Kein Vogel piepste.
    Und dann geschah es: Die Bodyguards am Hubschrauber legten auf einmal ihre Pumpguns und Maschinengewehre weg. Wie hatte Damián das bloß geschafft? Er kam mit raschem, leichtem Schritt auf uns zu, den Blick auf seinen Onkel geheftet.
    Was er zu ihm sagte, verstand ich nicht. Aber Tano drehte sich zu seinen Leuten um und rief ihnen etwas zu. Sie entspannten und sicherten ihre Gewehre und stiegen einer nach dem anderen ab.
    Dann musterte Tano uns mit seinen fürchterlichen Augen. Erst meinen Vater, dann mich, dann seine Nichte Clara, die immer noch an meinem Arm hing. Tano streckte die Hand aus und fasste Clara am Kinn.
    Seine Worte waren leise, sein Ton war väterlich, doch es schwang eine Drohung mit, die Clara erschauern ließ. Sie nickte und nickte immer wieder.
    Schließlich ließ er sie los, drehte sich um und ging.
    Damián deutete mit der Hand auf den Hubschrauber und sagte: »Los, geht!«
    »Und du, Damián?«, fragte Clara. Wenn sie es nicht gefragt hätte, so hätte ich es getan. Falls ich mich getraut hätte.
    Er hob das Kinn. »Ich werde nicht mitfliegen, Clara. Viel Glück!«
    Schau mich an!, dachte ich. Schau mich an! Aber ich weiß nicht, ob ich einen Ton herausbrachte.
    Damián wandte sich ab und ging mit großen Schritten und zugleich leicht und fast unbeschwert seinem Onkel hinterher.
    »Damian!« Ich wollte ihm hinterherlaufen, aber mein Vater hielt mich fest. »Damián!«, schrie ich. »Geh nicht weg!«
    Sein Schritt stockte. Langsam drehte er sich um.
    Der Griff meines Vaters an meinem Ellbogen war fest. Ich erinnere mich, dass ich versuchte, mich loszureißen. Aber es ging nicht.
    »Damián, bitte!«
    Er zögerte, dann kam er langsam ein paar Schritte zurück. Er blickte mich an, aber es war nicht der Blick, den ich suchte. Er schaute mich nicht

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