Der Ruf des Kolibris
Gipfel der Berge, als wir auf dem Hubschrauberlandeplatz des Bergwerks von Inza aufsetzten. Wie eine Festung klebten die Gebäude der Mine am bewaldeten Hang oberhalb eines tiefen Einschnitts, durch den sich ein Fluss schlängelte. Die Anlage war umgeben von hohen Zäunen mit Wachtürmen. Überall sah man bewaffnete Sicherheitsleute. Unterhalb der Mine hingen wie Pusteln an den steilen Hängen die Bretterbuden der Guaqueros. Es waren Tausende. Sie gehörten den armseligen Schatzsuchern, den Schlammwühlern, die Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr um Jahr mit Kind und Kegel auf die Schlacke aus der Mine warteten, um ein paar grüne Splitter vom großen Reichtum abzugraben.
Leandro warf sich ein Handtuch über die Schulter, bevor er ausstieg, das Tuch der Guaqueros, mit dem sie die Edelsteine sauber rieben. Die Guaqueros draußen am Zaun jubelten ihrem Patron zu wie einem Helden, einem großen Friedensstifter und Gönner der Armen. Es waren ausgemergelte Gestalten, Kleider und Gesichter waren schwarz vom Schlamm. Unter ihnen befanden sich Kinder und Frauen.
»Ich habe der Gegend Frieden gebracht«, erklärte uns Leandro. »Ich habe Regeln aufgestellt und setze sie durch. Jeder kann sein Glück machen, wenn er sich an die Regeln hält. Zwanzig Prozent des Ertrags der Mine geht an diese Menschen. Was sie finden, gehört ihnen. Das ist mein Geschenk an die Leute. So mancher ist über Nacht reich geworden.«
Mein Vater war still. Vermutlich tat ihm der Fuß weh. Er hatte ihn im Hubschrauber verbunden.
Leandro erläuterte, was wir von oben sehen konnten, während wir zu den eigentlichen Minengebäuden hinübergingen.
Unten am Flussufer wimmelte es von Geschäftemachern, Wunderheilern, Losverkäufern, Wahrsagerinnen, Schnapsverkäufern und Drogenhändlern. Autos standen auf einem kleinen Platz im schwarzen Schlamm. Auf den Motorhauben stellten Verkäufer auf Lappen ihre Funde aus. Diejenigen, die in sauberen Anzügen von Angebot zu Angebot schlenderten, waren die Smaragdkäufer. Vom Handeln mit Edelsteinen lebte es sich offensichtlich besser als vom Schürfen. Eine fragile Seilbahn überquerte in zehn Metern Höhe den Fluss. Drüben gab es Baracken mit Läden, Kneipen und Bordellen. Manche Guaqueros lebten seit fünfzehn Jahren so. Die Aussicht, im Schlamm aus der Mine eines Tages den einen großen Smaragd zu finden, war wie eine Sucht. Sie vergaßen darüber ihre Familien, ihre Frauen, ihre Freundinnen.
»Morgen zeige ich euch den Schacht«, versprach uns Leandro.
Elena war die Einzige von uns, die noch munter und aufgeregt war. Sie würde heute Abend endlich von ihrem Vater das lang ersehnte Geburtstagsgeschenk überreicht bekommen.
Ich dagegen war einfach nur müde. Das Getriebe und Geschrei, das Gewusel von Menschenmassen nahm ich wie durch einen Schleier wahr.
Es war ein Wunder, dass meine Füße mich überhaupt den Weg vom Hubschrauberlandeplatz zum Hotel trugen, das den absurden Namen El Palacio trug, Palast. Nur für Clara war es mit unvorstellbarem Luxus ausgestattet. Natürlich kannte sie Waschbecken und WCs, zumindest aus dem Krankenhaus von Popayán, aber dass sie selbst ein Zimmer für sich allein haben würde, wo warmes Wasser aus der Wand kam und ein riesiger Spiegel über einer Badewanne hing, wo auf dem Nachttisch Lampen mit Schirmen standen und wo ein Radio und ein Fernseher, wann immer sie es wollte, fremde Stimmen und Gesichter in ihre Welt brachten, das hätte sie nie zu träumen gewagt. Am meisten entzückte sie die ungeheure Glätte der Bettwäsche und die plustrige Weichheit der Kopfkissen. Und zugleich erschreckte es sie.
»Bitte«, flüsterte sie mir zu, »ich möchte nicht alleine hier schlafen.«
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie ein Zimmer für sich allein gehabt. Ich gab meinen Schlüssel zurück und zog zu Clara ins Zimmer.
Elena und ihr Vater würden oben in ihrer Suite übernachten, die immer für Leandro reserviert war. Wenn wir uns frisch gemacht hatten, sollten wir zu ihm hinaufkommen, wo er mit Abendessen und Musik eine kleine nachträgliche Geburtstagsfeier für Elena veranstalten würde.
Die Dusche belebte mich etwas. Nur hätte ich auch gern frische Kleider gehabt. Das verstand Clara nicht wirklich. Sie fand es auch ziemlich lustig, sich einfach so zu duschen. »Ich komme mir vor wie eine Prinzessin«, sagte sie kichernd.
»Die baden in Eselsmilch«, antwortete ich. »Zumindest in unseren Märchen.«
»In Eselsmilch?« Clara lachte. Dann aber begab sie sich doch
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