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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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erzählte.
    »Es ist eine öffentliche Schule« fuhr ich fort, »nicht weit von Juanitas Haus, mit einer Mittagsküche für ärmere Kinder. Clara wird in der Küche mitarbeiten und nachmittags die kleinen Kinder betreuen. Gesundheitlich geht es ihr sehr viel besser. Die Behandlung ist weniger teuer als befürchtet. Clara ist glücklich. Aber sie möchte nicht mehr nach Yat Pacyte zurück. Ich vermute, sie wagt es nicht, dir das mitzuteilen und dich zu bitten, dass du auf Tano dahingehend einwirkst ...«
    Himmel! Das konnte ich unmöglich schreiben. Erstens unterstellte ich Clara, dass sie ihrem Bruder ihre Sorgen nicht anvertraute, und zweitens deutete ich an, dass ich Grund hätte, anzunehmen, dass sie Damián nicht vertrauen konnte, und drittens mischte ich mich in eine Angelegenheit mit einer Bitte ein, die mir nicht zustand.
    Und wieder löschte ich alles.
    » Querido Damián , ich möchte dich wiedersehen! Ich kann ohne dich nicht leben. Ich denke jeden Tag und jede Nacht an dich. Ich gehöre dir, auf Gedeih und Verderb und für immer und ewig!«
    Bloß nicht! Ich löschte den Text und die E-Mail-Adresse zur Vorsicht gleich mit. Nicht, dass mir die Mail irgendwie entwischte und bei ihm auftauchte!
    Was anderes mochte ihn viel mehr interessieren.
    » Hola Damián, bald beginnt auch dein Semester wieder. Dann wirst du sicher wieder bei deiner Mama Lula Juanita wohnen wollen. Keine Angst, ich werde dann nicht mehr dort aufkreuzen. Ich werde auch nicht versuchen, anderweitig mit dir Kontakt aufzunehmen. Du kannst also ganz beruhigt nach Bogotá zurückkehren. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Auf keinen Fall darfst du meinetwegen deine Ausbildung unterbrechen.«
    Oder so ähnlich.
    Aber vielleicht zerbrach er sich über so was gar nicht den Kopf. Vielleicht war es ihm egal, ob er mich traf oder nicht. Vielleicht würde er einfach kommen, plötzlich da sein. Oder er würde nicht kommen, weil er andere Pläne hatte oder neue Aufgaben im Indianerrat des Cauca übernommen hatte. Vielleicht hatte er längst alles aufgegeben, was ihm das westliche Leben in Bogotá anbot, um sich wieder in die mehr oder weniger kriegerischen Horden einzugliedern und den ewigen Kampf der Indios um eigenes Land fortzuführen. Womöglich hatte die Begegnung mit mir ihn zu der Erkenntnis gebracht, dass sein Platz nicht unter Weißen, den höheren Söhnen und Töchtern von Bogotá war, sondern bei seinem Volk im Urwald, bei den Bären und im Kampf für mehr Rechte.
    Wenn das so war, wäre ich indirekt schuld daran gewesen, dass die Hoffnungen derjenigen, die ihm ein Stipendium und das Praktikum im Colegio Bogotano verschafft hatten, nun enttäuscht wurden. Alles für die Katz. Ich hörte schon meinen Vater reden: »Wer nicht will, der hat schon.« Wieder ein Indio, um den man sich bemüht hatte und der die ihm dargebotene Chance ausschlug.
    Oder war es ganz anders? Hatte er sich in Wirklichkeit für seine Schwester geopfert? Das war der Deal mit Onkel Tano gewesen: Du lässt Clara ziehen, dafür kehre ich zu dir in die Truppe zurück und verzichte auf mein Studium.
    Oh, Damián! Bitte erkläre es mir! Ein Wort, ein Hinweis, und ich gebe Ruhe!
    Nichts zu wissen war schlimmer, als es die Gewissheit gewesen wäre, dass ich ihm komplett gleichgültig war und er überhaupt nie annähernd so viel für mich empfunden hatte wie ich für ihn. Ich hätte damit leben können, dass er sich nur ein bisschen in meine blauen Augen und meine europäische Exotik vergafft hatte. Dann hätte ich ihn dafür verachten oder hassen können. Dann hätte ich ihn aus meinen Gedanken streichen können. Aber so! Vielleicht hatte ich das Entscheidende nur nicht begriffen. Vielleicht hätte ich etwas tun können oder müssen. Vielleicht wusste er gar nicht, dass ich ihn liebte. Vielleicht dachte er, er sei mir gleichgültig. Oder ich würde letztlich meinem Vater gehorchen und hätte ihn aufgegeben.
     
    Im September begann endlich die Schule wieder. Mit meinem kleinen Lexikon und meiner Legendensammlung war ich bestens vorbereitet auf alle Referate und Zusatzleistungen des Schuljahrs.
    Auch das gesellschaftliche Leben in Bogotá kam wieder in Gang. Nachbarn, Bekannte und Freunde kehrten von den Küsten zurück. Elena war braun gebrannt und beschwerte sich, dass Clara nicht mit ans Meer gekommen war. »Sie hätte tauchen lernen können. Davon träumt sie doch!«
    »Es ging nicht. Sie ist noch in Behandlung.«
    Dabei dachte ich wieder einmal, wie so oft, an den Streit mit

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