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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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entführt worden sei, und ihn retten. Aber erst war das Auto im Schlamm stecken geblieben, dann hatte ich mich im Urwald verlaufen. Atemlos war ich irgendwo liegen geblieben.
    »Und was bedeutet das jetzt?«, fragte ich. »Dass meinem Vater etwas Schreckliches passieren wird?«
    Juanitas Augen lächelten nicht mehr. Sie dachte nach. »Wer es eilig hat, muss langsam gehen«, sagte sie schließlich.
    Ich war etwas enttäuscht. »Das klingt wie eine Rätselaufgabe.«
    Clara lachte. »So ist das immer.«
    Juanita lächelte wieder, doch der Ausdruck von Wachsamkeit verschwand nicht aus ihren Augen. »Ich kann nicht in die Zukunft schauen, Jasmin«, sagte sie. »Ich kann nur sehen, was gerade ist. Und gerade bist du sehr ungeduldig. Aber wer rennt, rennt immer nur einen Weg und sieht die besseren Wege nicht, die von ihm abzweigen.«
    »Hm.« Ich verstand zwar, was sie sagte. Aber ich entdeckte nicht, was das mit mir zu tun hatte. Oder ich wollte es nicht verstehen. Wollte sie mir etwa klarmachen, dass ich Damián nicht hinterherrennen durfte, weil es der falsche Weg war? Aber ich lief ihm ja gar nicht hinterher. Ich versuchte, ihn zu vergessen. Was allerdings nicht hieß, dass ich nicht mehrmals am Tag an ihn dachte. Ich wachte mit ihm im Kopf auf und ging mit ihm im Sinn schlafen.
    Schon in den ersten Tagen hatte ich Clara in einem Internetshop eine E-Mail-Adresse eingerichtet und ihr geholfen, eine Mail an die Adresse zu schicken, die Damián auf der Kautschukkugel eingeritzt hatte. Es hatte ewig gedauert, bis Clara mit der Tastatur zurechtkam, und sie hatte immer wieder laut gelacht, wenn sich ein Buchstabe auf dem Bildschirm materialisierte.
    Sie bekam wohl auch eine Antwort von Damián, aber von sich aus sprach sie nicht über ihn, und ich schnitt das Thema nicht an. Ich hatte das Gefühl, dass weder Clara noch Juanita über ihre Familie reden wollten. Als ob da unaussprechliche Kränkungen oder Schmerzen säßen.
    Einmal hatte ich am Computer im Arbeitszimmer meines Vaters gesessen – meine Mutter lag mit Kopfschmerzen im Bett und mein Vater war noch im Krankenhaus – und hatte in die Adresszeile Damiáns E-Mail-Adresse getippt, die in meinem Kopf eingraviert war. Ich hatte angefangen, den Brief zu schreiben, den ich jede Nacht in meinem Kopf entworfen, wiederholt, variiert und immer wieder neu vor mich hin gemurmelt und auswendig gelernt hatte.
    »Querido Damián  ... «
    Im Spanischen bedeutete das, was wir mit »lieber Damián« übersetzt hätten, schlicht und direkt »geliebter Damián« und entsprach vollkommen meinen Gefühlen. Ich hätte es auch auf Nasa Yuwe schreiben können, aber das schien mir zu aufdringlich und zu weit vorausgegriffen. Es hätte geklungen, als wollte ich ihn damit bestechen, dass ich seine Sprache lernte.
    »Lieber Damián«, hatte ich geschrieben, »du hast eine Entscheidung für uns beide getroffen, die ich akzeptieren muss. Du hast gewusst, dass dein Onkel und mein Vater gegen unsere Beziehung sein würden. Die Reaktion meines Vaters war ungerecht und ich schäme mich dafür. Ich hätte ihn nicht für so engherzig gehalten. Meinen Standpunkt kennst du. Ich glaube daran, dass wir beide die Chance gehabt hätten, die größten Hindernisse zu überwinden. Wir hätten es probieren sollen. Aber ich verstehe, dass wir beide unterschiedliche und vielleicht unvereinbare Leben leben. Ich werde Kolumbien in neun Monaten wieder verlassen, du musst deinen Weg gehen. Aber wenn wir schon kein ganzes Leben für uns haben, so könnten wir doch vielleicht ein paar Monate haben. Deshalb möchte ich dir vorschlagen ...«
    Ich brach ab. Wie konnte ich, wenn ich einen Mann so liebte, wie ich Damián liebte, eine zeitlich begrenzte Affäre vorschlagen? Ich brachte es nicht fertig. Es wäre von vornherein eine Lüge gewesen. Und wenn es keine Lüge war, wenn ich wirklich geglaubt hätte, wir könnten uns neun Monate lang treffen und lieben und uns dann trennen, dann war die Liebe nichts wert und ein solcher Vorschlag unnötig. Unmoralisch wollte ich ihn nicht nennen, aber eigentlich kam er mir so vor.
    Also löschte ich alles wieder.
    »Hallo, Damián«, fing ich von Neuem an, »ich möchte dir nur kurz mitteilen, dass wir für Clara eine Schule gefunden haben, auf der sie in zwei Jahren die Hochschulreife erwerben kann.«
    Aber das hatte Clara ihm vermutlich schon selbst geschrieben. Immerhin konnte ich Damián so zeigen, dass Clara mir nichts über den E-Mail-Austausch mit ihm, ihrem Bruder,

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