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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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meinen Eltern und ihre Ermahnung, Clara nicht mit dem gesamten Luxus der westlichen Welt zu überschütten. Aber erstens ärgerte ich mich immer noch darüber, und zweitens war das nicht der wahre Grund gewesen, warum ich mit Clara nicht in die Karibik gefahren war. Ich hatte einfach keine Lust auf Elena und ihre Eltern gehabt, auf Silberbesteck und den ganzen Smaragdreichtum.
    »Verstehe schon«, zwinkerte sie mir zu. »In der Karibik hättest du Damián nicht treffen können.«
    »Ich habe ihn nicht getroffen.«
    »Hat er denn seine Schwester nicht besucht?«
    Zum Glück gab es bald ein anderes Thema, über das sich die ganze gute Gesellschaft und mit ihr Elena fürchterlich aufregte. In den Slums im Südosten von Bogotá hatte ein Mann einen anderen beauftragt, sein zwei Monate altes Baby zu töten, weil er der Mutter keinen Unterhalt zahlen wollte. Der Mann und sein Killer saßen im Gefängnis, und die Menschen gingen zu Hunderttausenden auf die Straßen und hielten Kerzen in die Höhe, um gegen das Morden zu protestieren. Elena, Clara und ich waren natürlich auch mit dabei.
    Um zu erfahren, ob auch Damián sein Studium an der Staatlichen Universität wieder aufgenommen hatte und wo er wohnte – denn im Waldhaus erschien er nicht –, hätte ich Clara fragen müssen. Es war eigentlich eine ganz einfache Frage, die jeder normale Mensch, der an ihr und ihrer Familie interessiert war, hätte stellen können. Nur ich konnte es nicht.
    Denn egal, wie die Antwort ausfiel, sie hätte mich um meine mühsam in den Ferien erworbene Ruhe gebracht: War er nicht da, fühlte ich mich schuldig, weil er sein Studium abbrach. War er aber da, würde kein Tag vergehen, an dem ich nicht hoffte und fürchtete, ihm zufällig zu begegnen. Eine überaus lächerliche Furcht in dieser riesigen Stadt mit ihren sieben Millionen Einwohnern. Begegnete ich ihm aber nicht, weil er eben auch nie seine Schwester in Juanitas Haus besuchte, dann hätte ich gewusst, dass er mir aus dem Weg ging. Es war die Hölle!

de

– 29 –
     
    A ls ich meinte, es keine Minute länger aushalten zu können, ohne zu platzen, zu schreien, aus der Haut zu fahren oder mich jemandem anzuvertrauen, meldete sich, als ich daheim das Telefon abnahm, überraschend Felicity Melroy.
    »Schöne Sitte«, sagte sie auf Englisch, »dass ihr Deutsche euch immer mit Vor- und Zunamen am Telefon meldet. Da weiß ich doch gleich, dass ich nicht erst fragen muss, ob ich mit der Tochter oder der Mutter spreche oder mit der Haushälterin. Und zu dir wollte ich, Jasmin.«
    »Zu mir?«
    Sie lachte mit tiefer Stimme und hustend. »Ja. Ist das so abwegig? Wir haben uns doch gut unterhalten auf dem Diplomatenball. Und weißt du was, ich habe eine Kreuzfahrt unternommen und war in Europa und jetzt bin ich wieder hier und langweile mich fürchterlich. Am besten, du kommst am Samstagnachmittag um vier zum Tee und wir unterhalten uns ein bisschen.«
    Das war keine Frage, das war eine Anweisung, der ich nicht hätte widersprechen können. Meine Eltern hatten auch keine Einwände. Felicity wohnte im zwölften Stock eines Hochhauses in Chapinero, dem schrillsten Viertel der Stadt, in dem sich zahllose Schwulen- und Lesbenbars befanden.
    »Keine Angst«, sagte sie, als wir unter dem Dach ihres Balkons saßen und im Earl Grey rührten, »ich werde dich nicht mit meinen Reiseerlebnissen anöden, Hotel, Essen, bunte Abende, alte Leute mit vielen Klunkern um den Hals, es ist immer dasselbe und dürfte dich kaum interessieren.«
    Es regnete wieder mal auf das Meer der Häuser nieder, aber wir saßen trocken mit Decken auf den Knien.
    »Du hast eine viel interessantere Reise gemacht als ich«, fuhr Felicity Melroy fort. »Ein Überfall, eine Geiselnahme, ein romantischer Ausflug in die Berge, ein Bär, ihr wärt beinahe erschossen worden ... du siehst, ich weiß alles.«
    »Woher denn?«, fragte ich.
    Sie lachte gemütlich. »Ach weißt du, Kleines, die ausländische Gemeinde ist ein Dorf in der Stadt. Da erfährt man alles über jeden, über kurz oder lang. Nur dem, den es betrifft, sagt keiner was. Oder weiß deine Mutter Bescheid? Deine Freundin Elena hat ihrer Mutter allerdings einiges erzählt, die hat es ihrer Freundin Mrs Green weitererzählt oder einer anderen, und die hat es dann Mrs Green erzählt. Letztlich erzählen alle alles Mrs Green, und ich habe es von ihrem Sohn gehört, John Green, der ist ...«
    »Der Militärattaché an der britischen Botschaft. Er hat auf dem Ball erst mit

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