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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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vorgefallen? Nichts ist vorgefallen! Papa kommt doch bloß nicht damit klar, dass die Guaqueros ihn nicht als Gott in Weiß gefeiert haben. Man braucht seine Hilfe hier nicht! So ist das nämlich. Eure ganze Sozialromantik ist für den Arsch! So ist das doch!«
    Mein Vater biss die Zähne zusammen und sagte kein Wort.
    »Es reicht, Jasmin!«, sagte meine Mutter gefährlich leise. »So redest du nicht mit uns!«
    »Gut, dann brauchen wir ja überhaupt nichts mehr zu reden«, sagte ich und warf die Serviette auf den Tisch. »Ihr traut mir ja eh nichts Vernünftiges zu. Und ich bin ja auch noch zu dumm und zu unreif, um zu verstehen, warum ihr auf eurem verdammten Geld hockt!«
    »Jasmin!«, sagte mein Vater schwach. »Bitte!«
    Aber es war alles zu spät. »Ich verachte euch!«, schrie ich und lief aus dem Zimmer.

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– 28 –
     
    S ie warteten auf eine Entschuldigung. Und ich auch. Aber sie mussten den ersten Schritt machen. Sie waren schließlich die Eltern, sie hatten die Macht, sie konnten bestimmen, wo ich lebte und wie, und sie waren überdies die Erwachsenen, die für sich in Anspruch nahmen, vernünftiger und reifer zu sein als ich. Dann sollten sie das auch mal beweisen, dachte ich.
    Wir sprachen in den nächsten Tagen nur das Nötigste.
    Clara erzählte ich nichts von dem Krach. Ich hätte mich zu sehr für meine Eltern geschämt. Wie hätte ich ihr erklären können, dass meine Eltern, die mit dem Flugzeug aus Deutschland gekommen waren, in einer Wohnung mit vielen Zimmern und Haushaltshilfe lebten, ein Auto besaßen und jederzeit mit dem Taxi fahren konnten, weil sie beide einen gut bezahlten Job hatten, auf einmal fanden, dass sie nicht dafür zuständig waren, Claras Aufbruch in ein neues Leben zu finanzieren?
    Natürlich verstand ich es auch. Wo hätte das hingeführt? Es gab so viele, die es genauso verdient hätten wie Clara, eine Chance zu bekommen. Clara hatte Freundinnen und Cousinen. Sie alle hatten Träume. Warum sollten meine Eltern also ausgerechnet für Clara den Weg bereiten? Immerhin hatte mein Vater schon dafür gesorgt, dass sie medizinisch behandelt wurde. So richtig verstand ich es jedoch nicht. Man konnte nie allen helfen, nicht allen ein Stück vom Glück verschaffen, aber wenn man es zufällig bei einem Menschen konnte, warum sollte man es dann nicht einfach tun? Allerdings war mir schon auch klar, dass ich gut reden hatte, solange es sich nicht um mein Geld handelte. Leider konnte ich nichts verdienen. In Bogotá waren die Jobs rar. Außerdem hätte ich mich vor den Sommerferien darum kümmern müssen. Irgendwo kellnern oder putzen ging nicht, damit hätte ich Bedürftigeren den Job weggenommen. Und meine Eltern hätten mir es auch nicht erlaubt.
    Was mir zuerst wie Wortbruch, Weltuntergang und Scheitern erschienen war, erwies sich als Vorteil. Clara und ich hatten plötzlich viel Zeit, weil wir nicht mehr so viel unternehmen konnten. Wir verbrachten oft den ganzen Tag in Juanitas Waldhäuschen. Wir saßen draußen, wenn das Wetter schön war, oder am Tisch neben dem Herdfeuer, tranken tintenschwarzen Kaffee und unterhielten uns. Clara strickte Pullover. Das Geld für die Wolle hatte Juanita ihr gegeben. Und ich saß mit Heft und Stift dabei und schrieb. Es hatte damit angefangen, dass ich mir von Clara Worte ihrer Sprache hatte erklären und übersetzen lassen. Mittlerweile wuchsen sich meine Notizen zu einem Wörterbuch aus. Außerdem hatte ich begonnen, Juanita auszufragen. Die kleine Medizinfrau mit den langen Zöpfen gab bereitwillig Auskunft über Mythen und Legenden der Indianervölker Südamerikas. Und plötzlich war ich dabei, Lexikon und Grammatik der Sprache der Nasas und eine Legendensammlung zu erstellen.
    »Und wie ist das mit dem Träumedeuten?«, fragte ich eines Tages.
    »Erzähl mir einen Traum«, antwortete Juanita.
    Ich wusste keinen. »Ich träume nicht.«
    »Jeder träumt. Du erinnerst dich nur nicht daran. Dein starker Verstand deckt die Bilder der Nacht zu.«
    Für so stark hatte ich meinen Verstand bisher noch nicht gehalten.
    Juanita lächelte mich an, mit kleinen funkelnden Augen und blitzenden Goldzähnen. »Du hast sogar einen sehr starken Verstand, Jasmin. Du willst alles durchdenken, alles regeln, alles lösen. Du hast bestimmt schon mal geträumt, dass du rennst, aber doch nie dorthin kommst, wo du hinwillst.«
    Ich nickte. Jetzt, wo sie das sagte, fiel mir ein, dass ich erst kürzlich geträumt hatte, ich müsste in die Berge, weil mein Vater

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