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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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er, »Juanita hat recht. Und wenn du es willst, dann werde ich mit dir zusammen die Reinigungszeremonie machen.«
    Ich nickte. »Ich möchte es tun, Damián.«
    Und ich wollte es tatsächlich in diesem Moment, ich glaubte wirklich, dass es unsere einzige Chance war, unsere Liebe von allen Irritationen und Gefühlen des Misstrauens und der Unsicherheit zu reinigen. Danach, so glaubte ich, würde ich wissen, was ich von ihm denken und wie ich mich verhalten und was ich tun musste.
    »Ich weiß nur noch nicht«, räumte ich ein, »wie ich das meinen Eltern beibringe. Aber zur Not ... zur Not schleiche ich mich irgendwie davon.«
     
    Damián brachte mich zur Bushaltestelle in der Calle 30, ohne mich an der Hand zu nehmen. Wir gingen nebeneinander her wie andere Studentinnen und Studenten auch. Zwischen anderen Studenten warteten wir auf den Bus und redeten nichtige Dinge. Damián erklärte mir, dass die Universität auch La Nacho genannt wurde und die Studenten Nachos oder aber Tirapiedros, Steinewerfer, nach den Protesten und Schlachten mit der Polizei im vergangenen Jahr.
    Die ganze Zeit hatte ich das verrückte Gefühl, als ob uns der Beschluss, uns Juanitas Magie anzuvertrauen, einander nähergebracht und zugleich voneinander entfernt hätte. Immerhin hatten wir uns verabredet. Zum ersten Mal. Wir würden uns wiedersehen. Das war zum ersten Mal sicher nach all den Monaten, die wir uns jetzt kannten. Deshalb standen wir entspannt beieinander, im Vertrauen, dass es ein Morgen geben werde. Bisher hatten wir uns jedes Mal aneinandergeklammert wie Ertrinkende, die jeden Moment auseinandergerissen werden konnten. Und dennoch vermisste ich in diesem Moment die drängende Suche seiner Hand nach meiner. Ach, es war alles so schwierig! Wirklich. Nichts war eindeutig und klar. Meine Gefühle wechselten von Euphorie, Ruhe und Vertrauen unmittelbar zu Unruhe, Verzweiflung und Angst.
    Er küsste mich zum Abschied, viel zu kurz und zu schnell, fast flüchtig. Ich stieg in den Bus und setzte mich ans Fenster. Da stand er unten, ein schmaler junger Mann mit breiten Schultern und pechschwarzem Haar, mit seinem schönen bronzefarbenen Gesicht, dem Ernst in den Augen, einem Lächeln auf den Lippen, und hob die Hand zum Abschiedsgruß.
    Als der Bus rollte, überfiel mich eine fürchterliche Angst. Ich versuchte herauszufinden, wovor. Vielleicht war es die Angst, Juanitas Zeremonie würde mir klarmachen, dass ich von Damián lassen musste. Denn das war es, was mir die Vernunft die ganze Zeit zu sagen versuchte. Es war das, was meine Eltern sagten. Dabei verdankte Susanne Schuster Damián eigentlich ihr Leben. Und wenn sie bald freikam, wie Damián behauptet hatte, wer würde dann in ein paar Jahren noch darüber nachdenken, ob Damián mehr hätte tun können, um sie vor der Entführung zu bewahren?
    Nein, ich hatte keine Angst davor, dass Juanitas Reinigungszeremonie mir die Liebe zu Damián nehmen würde. Ich hatte Angst davor, dass ich Damián nie wiedersehen würde, jetzt, wo wir uns zum ersten Mal verabredet hatten.

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– 40 –
     
    A ußer Estrellecita war niemand zu Hause, als ich kurz vor sechs eintrudelte. Sie saß mit dem fertigen Abendessen in der Küche. Im Wohnzimmer war gedeckt.
    »Wo sind sie alle?«, fragte ich.
    Sie zuckte mit den Schultern. Es hatte auch niemand angerufen, um zu sagen, dass sie später kämen.
    Ich erlöste Estrellecita und schickte sie nach Hause, damit sie sich um ihren kranken Großvater kümmern konnte. Sie bedankte sich überschwänglich und eilte davon.
    Ich blieb in der leeren Wohnung zurück und sichtete hastig die Anrufliste meines Handys, aber niemand hatte versucht, mich zu erreichen. Ich wählte die Nummer der Abteilung meines Vaters im San Vicente. Eine der Schwestern erklärte mir: »Ihr Vater ist bei Ihrer Mutter.«
    Ich fiel aus allen Wolken. Meine Mutter war im Krankenhaus. Was sie genau hatte, konnte oder wollte mir die Schwester nicht sagen. Sie sei auf der neurologischen Abteilung. Die Schwester versprach, meinem Vater zu sagen, dass er mich anrufen solle. Mein Vater benutzte im Krankenhaus sein Handy nicht. Deshalb konnte ich mich nicht mit ihm in Verbindung setzen. Ich überlegte, ob ich doch lieber gleich ins Krankenhaus fahren sollte. Mit dem Bus oder mit einem Taxi? Doch wenn ich jetzt losfuhr, kam ich womöglich im Krankenhaus an, nachdem mein Vater sich eben – vielleicht zusammen mit meiner Mutter – auf den Heimweg gemacht hatte.
    Seltsamerweise machte ich mir um

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