Der Ruf des Kolibris
der mumifizierte Fötus eines Lamas sein musste.
Ich schaute Damián an. Er lächelte und ergriff meine Hand. Ich fand es beruhigend, dass man lächeln durfte. Mir fiel auf, dass wir überhaupt die ganze Zeit Menschen blieben. Es war nichts dabei, wenn Clara hustete oder kurz auflachte oder Juanita sich ausgiebig am Hals kratzte und einmal nicht recht weiterzuwissen schien. Ich fragte mich, wo eigentlich der Zauber war. Ich spürte nichts.
Der Wind strich mir übers Gesicht, und ich wischte einen Tropfen weg, der mir in den Kragen zu rollen drohte. Sterne leuchteten zwischen den Baumkronen. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ich in Bogotá jemals die Sterne gesehen hatte. Wenn nicht dicke Sturmwolken sie verdeckten, dann verschleierte sie die Dunstglocke über der Stadt.
Und dann hörte ich Damiáns Stimme. Doch sie kam nicht von ihm, der neben mir stand, mit geschlossenen Lippen, die Augen auf seine Mama Lula Juanita gerichtet, und meine Hand hielt. Seine Stimme war in mir.
»Wir werden uns wiedersehen«, sagte er. »Irgendwann.«
»Das klingt, als würdest du dich gerade von mir verabschieden, Damián.«
»Es gibt keinen Abschied zwischen uns beiden«, antwortete seine Stimme in mir. »Wir gehen nur zwei verschiedene Wege, die zum selben Ziel führen. Wir werden uns wiedertreffen. Doch jetzt braucht deine Mutter dich und dein Vater braucht dich auch noch. Du kannst sie nicht verlassen. Sie würden es nicht verstehen. Du würdest sie zornig und traurig zurücklassen.«
»Unmöglich!«, protestierte ich. »Das ist mein Leben!«
»Ja, das ist dein Leben, Jasmin. Du musst es so leben, wie es dir bestimmt ist. Und ich muss mein Leben leben. Ich kann nicht mit dir gehen. Ich kann meine Schwester und meine Großmutter nicht ihrem Schicksal überlassen. Ich habe noch etwas zu tun, Jasmin. Ich muss etwas in Ordnung bringen.«
»Meinst du das mit der Geisel?«
»Auch.«
»Aber du willst dich doch nicht opfern, Damián! Du wirst nicht sterben?«
»Nein. Ich will mich nicht opfern, Jasmin. Cuene, der Gott des Blitzes, hat uns vor vielen hundert Jahren schon das Menschenopfer erlassen.«
»Wie Gott im Alten Testament dem Abraham, der seinen Sohn Isaak opfern wollte und im letzten Moment dafür einen Widder erhielt.«
»Ja, so. Deshalb opfert Juanita ihm heute ein ungeborenes Lama. Es ist im Mutterleib gestorben mit einer Seele, die ganz Liebe ist und nichts weiß von Falschheit und Lüge. Auch wir müssen vielleicht ein Opfer bringen, Jasmin. Aber wir müssen nicht uns opfern. Unsere Liebe darf nur nicht auf Egoismus gegründet sein. Wir können denen, die wir bisher geliebt haben, nicht den Rücken kehren. Du würdest es dir nie verzeihen, wenn deine Eltern an dich künftig nur mit Trauer und Enttäuschung denken könnten, und ich würde nicht vergessen können, wenn ich meine Leute enttäuscht und im Stich gelassen hätte.«
»Aber ich will nicht leben ohne dich. Mein Leben hätte keinen Sinn mehr!«
»Scht! Jasmin!«, raunte er in mir. »Unsere Liebe ist noch nicht zu Ende gelebt. Wir sind jung. Wir haben noch viel Zeit. Viele Jahre, Jasmin. Und es werden andere Zeiten kommen in diesem Land. Es wird Frieden herrschen. Dann werden wir uns wiedertreffen. Je mehr wir daran arbeiten, desto eher wird das sein. Wir müssen unsere Ziele mit Leidenschaft und Ehrlichkeit verfolgen, und wenn unser Leben nur durch unsere Liebe Sinn bekommt, dann werden sich unsere Wege unweigerlich wieder treffen. Hab Geduld, Jasmin. Vertrau dir selbst. Du kennst deinen Weg.«
»Ich habe Angst, Damián.«
»Ich auch, Jasmin. Aber es ist unnötig.«
Juanita rieb erst mir, dann Damián mit einem Bündel aus würzigen Kräutern das schwarze Zeichen von der Stirn. Und so unmerklich, wie sie begonnen hatte, war die Zeremonie vorüber. Die Alte räumte ihren Krempel zusammen, wickelte den schaurigen Lamaembryo sorgfältig in ein Tuch und machte eine Bemerkung darüber, dass man sie nur noch in Peru bekam.
Ich schaute Damián an. Er erwiderte meinen Blick ruhig. Ich wusste plötzlich, dass unser Gespräch wirklich stattgefunden hatte, wenn auch nur in unserem Inneren.
Hand in Hand gingen wir den Weg zurück. Ich weiß nicht, was Clara und Juanita taten, ich achtete nicht auf sie. Wir sprachen kein Wort. Es musste nichts mehr gesagt werden.
Vorhin war es mir vorgekommen, als gingen wir in den Himmel. Jetzt kamen wir von ihm herab. Aber es war kein Weg in die Hölle, es war der ins Leben. Ich erwartete nicht, dass es einfach werden
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