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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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meine Mutter keine besonders großen Sorgen. Das Essen wurde kalt auf den Herdplatten in der Küche. Warum rief mein Vater nicht an? Starb meine Mutter gerade? Oder war sie schon tot und er mochte mir das am Telefon nicht sagen? Ich kam zu dem Schluss, dass ich ins Krankenhaus fahren musste. Wenn meine Mutter tot war, brauchte mein Vater mich jetzt. O Gott, wenn Mama tot war ... Panik flackerte in mir auf.
    Ich hatte mich gerade wieder angezogen und den Schlüssel eingesteckt, als das Telefon klingelte. Es war Papa. Er fragte zuerst: »Wo hast du gesteckt? In der Schule warst du nicht und zu Hause auch nicht. Oder es war besetzt!«
    Er hätte auf meinem Handy anrufen können. Aber das sagte ich nicht. Es war nicht der Moment für große Erklärungen. »Was ist mit Mama?«, unterbrach ich ihn.
    »Sie ist auf der Straße umgekippt«, antwortete er. »Heute früh. Man hat sie zunächst in ein städtisches Krankenhaus gebracht. Die Ärzte dachten, sie hätte die akute Höhenkrankheit, ein Hirnödem. Jemand hat ihr die Handtasche geklaut, deshalb hatten die Ärzte keinen Ausweis. Aber zum Glück hat irgendwann ein Kollege sie erkannt und mich angerufen.«
    »Aber ...« Mir fielen ganz viele Aber ein. Wenn meine Mutter sich am Morgen im Labor krankgemeldet hatte, was ging sie dann raus auf die Straße? Wenn sie etwas gebraucht hatte, aus der Apotheke zum Beispiel, hätte sie Estrellecita schicken können. Doch es war jetzt auch nicht der Moment für mein Aber.
    »Ich habe sie dann hierher geholt«, fuhr mein Vater fort.
    »Und was hat sie jetzt?«
    »Das ist unklar. Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen.«
    »Soll ich kommen?«
    »Nein, das ist nicht nötig. Du kannst hier nichts tun. Mach dir keine Sorgen, Jasmin. Ich werde die Nacht im Krankenhaus verbringen.«
    »Okay. Wenn du meinst ...« Ich war unsicher. »Sie kommt doch wieder in Ordnung?«
    »Ich denke schon. Aber vielleicht müssen wir ...« Er unterbrach sich. »Darüber reden wir später.«
    »Und was ist mit der Polizei? Ich muss noch mein Protokoll machen, oder?«
    »Da habe ich schon angerufen. Wir gehen morgen oder übermorgen. Es eilt nicht.«
    Ich empfand ganz ungehörige Erleichterung. Außerdem war ich froh, dass mein Vater momentan nicht den Kopf hatte, nachzufragen, warum ich heute Mittag weder in der Schule noch zu Hause erreichbar gewesen war. Gleich darauf überfiel mich das schlechte Gewissen. Ich hätte mich um meine Mutter sorgen müssen, aber ich hatte nur an mich und an Damián gedacht.
    Und ich dachte auch jetzt sofort an die Möglichkeiten der unverhofft geschenkten Freiheit dieser Nacht. Ich konnte sofort zum Waldhaus fahren und mich Juanitas Reinigungszeremonie unterziehen. Ich musste nichts erklären, nicht lügen – jedenfalls jetzt noch nicht –, ich musste nicht über den Balkon flüchten. Ich konnte meine Verabredung mit Damián einhalten. Alles war plötzlich ganz leicht.
    Zwei Minuten stand ich im Flur und überlegte. War da irgendwo ein Haken? Würde mein Vater sich umentscheiden und doch noch nach Hause kommen?
    Ich holte Papier aus meinem Zimmer, schrieb: »Übernachte bei Elena, Küsschen Jasmin«, und legte den Zettel auf den Esstisch. Damit er meinem Vater auch auffiel, falls er doch noch heimkam, musste ich noch schnell das Geschirr abräumen, das Estrellecita gedeckt hatte.
    Alles erledigt? Dann los!
    Sonderlich gut fühlte ich mich nicht, als ich den Bus bestieg. Ich hätte meinen Vater wenigstens fragen müssen. Meine Mutter lag im Krankenhaus, womöglich starb sie, und ich war nicht da. Ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass ich jederzeit auf meinem Handy erreichbar war. Erst auf den letzten Metern zum Tor des Waldhauses gelang es mir, die Stachel meines Gewissens abzuschütteln. Ich tat ja nichts Böses. Ich tat nichts, was gegen alle Vernunft war.
    »Was ist los?«, fragte Juanita, als ich in die Hütte eintrat, in der sie und Clara am Tisch saßen. Damián war auch schon da.
    »Meine Mutter ist im Krankenhaus«, antwortete ich.
    Es berührte mich ganz sonderbar, Damián in der Hütte seiner Mama Lula Juanita zu sehen. Es schien, als gebe er ihr eine besondere Wärme, als fülle er sie mit Kraft und Energie. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie klein die Hütte war.
    »Oh!«, rief Clara erschrocken. »Was Schlimmes?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich.
    »Aber Angst musst du um sie nicht haben«, bemerkte Juanita. Erst viel später wurde mir klar, dass sie in diesem Moment nur meine Gefühle las und keineswegs

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