Der Ruf des Kolibris
Jemand würde deinem Vater davon erzählen.«
»Ich will nicht klug sein, Damián.«
Er lächelte. »Ich auch nicht, Jasmin.« Er küsste mich. »Aber wir müssen.«
»Und wann sehen wir uns wieder?«
»Morgen, Jasmin, oder übermorgen. Ich melde mich bei dir. Ich habe ja deine Handynummer. Ich rufe dich an.«
Und noch einmal küsste er mich, so überwältigend und heftig, so atemberaubend und mit solcher Brutalität und männlicher Begierde, dass ich in seinen Armen erstarrte wie ein kleines Tier in den Fängen des Jaguars, gelähmt von unsagbarer Vorfreude auf eine mir unbekannte, aber unzweifelhaft unaussprechlich lustvolle Erfüllung. So also fühlte sich Hingabe an, grenzenloses Vertrauen, völlige Selbstaufgabe, unsägliches Glück.
Irgendwann aber musste auch das enden. Damián riss sich von mir, wandte sich ab und ging mit langen Schritten davon.
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D er Regen rauschte. Angst juckte wie ein böser Pickel unter meinem Brustbein, als ich am Morgen aufstand. Es war ein Scheißgefühl. So als ob heute etwas Furchtbares passieren würde, weil ich es versäumt hatte, etwas Bestimmtes zu tun. Als ob meine Mutter über Nacht gestorben wäre oder heute sterben würde. Und nur weil ich gestern nicht ins Krankenhaus gefahren und sie besucht hatte.
Aber hatte Juanita nicht gesagt, ich brauchte mir um meine Mutter keine Sorgen zu machen? Ich dachte an ihren Reinigungszauber und die Angst fiel von mir ab. Ja, es war ein echter Zauber gewesen, ein guter Zauber, er hatte Damián und mich einander so nahegebracht, wie sich zwei Menschen kommen konnten. Alles wird gut.
Estrellecita hatte mir Kaffee und Brötchen hingestellt, die denen eines deutschen Frühstücks ziemlich nahekamen. Aber ich hatte nicht den geringsten Hunger. Ich war angefüllt mit mächtigen Gefühlen, die keinen Platz ließen für Brötchen mit Butter und Marmelade.
Ich musste Estrellecita natürlich von meiner Mutter erzählen. Sie war sofort in heller Sorge. »Du musst deinen Vater anrufen!«, sagte sie. »Du musst ihn anrufen, gleich!«
Ich gehorchte. Eine Schwester erklärte mir, mein Vater habe sich gerade zum Schlafen hingelegt. Meine Mutter habe die Nacht gut überstanden. Ich solle mich mittags wieder melden. Sie werde meinem Vater sagen, dass er dann im Büro sein solle.
Auf dem Weg zur Schule fiel mir ein, dass ich mich gestern mit Elena verkracht hatte. Ich hätte sie unbedingt am Abend noch anrufen müssen, um es in Ordnung zu bringen. Aber ich hatte überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Auf einmal kam es mir vor wie ein furchtbarer Fehler.
Worüber waren wir eigentlich in Streit geraten? Sie hatte Damián unterstellt, er hätte unsere Befreiung und Rettung in Popayán nur inszeniert, damit ihr Vater Leandro sich der Sache der Indígenas verpflichtet fühlte. Und ich hatte ihr vorgehalten, ihr Vater sei undankbar, und es komme ihm ganz gelegen, wenn Damián als Geiselnehmer von Susanne Schuster verhaftet oder erschossen würde, weil er sich dann später die Killer sparen könne, die Damián töten würden, falls er als Politiker zu mächtig wurde. Was für ein bescheuerter Streit! Es war alles haltlose Spekulation gewesen. Absolut kindisch!
Was waren wir Menschen doch dumm, streitsüchtig, egoistisch und gemein. Und ich war da keine Ausnahme. Als ob es keine anderen Probleme in der Welt gab als unsere eigenen kleinen Ängste, Enttäuschungen und Wünsche. Als ob da draußen nicht Millionen von Menschen ohne Wohnung und Essen auf der Straße lebten, täglich im Schlamm aus der Smaragdmine nach dem großen Glück gruben oder fern aller Ärzte und Krankenhäuser an einer banalen Krankheit starben.
Elena stand am Eingang des Schulgebäudes, als ich über den Campus ging. Sie drehte sich von mir weg, kaum dass sie mich sah, und trat ins Gebäude. Ich rannte ihr hinterher und holte sie auf der Treppe ein.
»Elena«, sagte ich, »ich möchte dich um Entschuldigung bitten. Es tut mir leid, was ich gestern gesagt habe.«
Sie blieb stehen und blickte mich skeptisch an.
»Ich wollte gestern Abend bei dir anrufen«, log ich, »aber meine Mutter liegt im Krankenhaus.«
»Oh!«, sagte Elena, sofort besorgt. »Was Schlimmes?«
»Weiß man noch nicht. Sie ist auf der Straße umgekippt. Sie war den ganzen Tag verschwunden. Man hat nicht gewusst, wer sie war, weil ihr die Handtasche geklaut wurde. Man hat gedacht, sie hätte die akute Höhenkrankheit, wohl, weil sie Ausländerin ist. Papa hat die ganze Nacht im Krankenhaus
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