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Der Ruf des Kolibris

Der Ruf des Kolibris

Titel: Der Ruf des Kolibris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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würde, aber ich hatte doch auch die Hoffnung, dass es erträglich würde. Ich würde studieren, immer mit dem Ziel, nach Kolumbien zurückzukehren. Wir würden uns schreiben, wir würden telefonieren. Meine Eltern würden sich allmählich an ihn gewöhnen. Vielleicht konnte Damián mich sogar einmal in Deutschland besuchen kommen. Wozu sonst war er auf eine deutsche Schule gegangen.
    Als wir an der Hütte anlangten, kam es mir vor, als wäre ich lange weg gewesen. Die Stadt begann wieder zu rauschen. Meine Sorgen kehrten zurück: Meine Mutter lag im Krankenhaus, mein Vater war voller Angst und tief unglücklich. Aber ich fühlte mich erfrischt und munter. Ich würde es schaffen, mit all dem klarzukommen.
    Ich erinnerte mich, dass ich auf dem Weg hierher davon ausgegangen war, dass ich die Nacht mit Damián verbringen würde, dass diese Nacht uns allein gehören, dass es unsere Nacht werden würde, auch wenn mir nicht recht klar gewesen war, wie das hätte gehen sollen in dieser Hütte, die nur einen Raum besaß, in dem Juanita und Clara lebten. Ich hatte vage gedacht, irgendwie werde das Schicksal uns schon günstig sein, irgendetwas werde sich ergeben. Doch jetzt erkannte ich meinen Irrtum. Es war Wunder genug, dass die Krankheit meiner Mutter mir unverhofft ein paar Stunden Freiheit geschenkt hatte.
    »Ich muss jetzt wohl heim«, sagte ich.
    Juanita nickte. Ich bedankte mich bei ihr, so gut es ging. Die kleine Alte mit den Zöpfen drückte mich so heftig an sich, dass ihr der Hut vom Kopf fiel. Darüber lachte sie herzlich.
    »Ich bringe dich nach Hause«, sagte Damián.
    Auch Clara umarmte mich zum Abschied. Ich erklärte ihr, dass ich wohl die nächsten Tage nicht kommen könne. Sie nickte und strich mir über die Wange. »Ich werde nie vergessen, was du und dein Vater für mich getan habt.«
     
    Schweigend gingen Damián und ich den Weg zum Tor hinab. Unten empfing uns die helle Stadt mit ihrem rasenden Verkehr.
    Ich dachte daran, wie Damián mir im obersten Stock des Bolívar-Hochhauses die Stadt erklärt hatte. Äonen war das her. Wie erschrocken waren wir beide damals gewesen. Total unsicher, ob unsere Empfindungen sich mit denen des anderen deckten. Ich musste lächeln. Es war aufregend gewesen, fast zu aufregend. Noch mal wollte ich das nicht erleben. Der Beginn einer Liebe war, ehrlich gesagt, fürchterlich. Was hatte ich gelitten! Diese Zweifel! Ein Moment Glückseligkeit und in der nächsten Minute Tränen der Verzweiflung. Nie wieder!
    Wir bestiegen den Bus. In der dunklen Scheibe spiegelten sich unsere Gesichter. Damián hatte meine Hand ergriffen. Ich genoss die Ruhe zwischen uns beiden.
    »Wenn ich wieder in Deutschland bin«, überlegte ich, »könnte ich versuchen, ob meine Schule eine Patenschaft für dein Uniprojekt übernimmt.«
    Damián lächelte.
    »Wir könnten Geld sammeln und Informationsveranstaltungen machen. Und dann werden wir dich natürlich auch mal einladen müssen. Praktischerweise kannst du Deutsch.«
    »Das wäre schön. Ich würde gerne einmal Deutschland sehen.«
    Die Fahrt war viel zu kurz.
    Damián brachte mich bis zur Pforte der Wohnanlage El Rubí und blieb dann stehen.
    Auf einmal schlug mir das Herz bis zum Hals. Jetzt musste ich ihn nur noch fragen, ob er mit hinaufkommen wollte. Die Wohnung war leer. Wir hatten – wiederum unverhofft – diese Nacht für uns allein. Aber traute ich mich wirklich?
    »Damián ...«
    Er fasste mit beiden Händen mein Gesicht und küsste mich, erst auf den Mund, dann auf die Nase, dann auf die Stirn und dann wieder auf den Mund.
    »Wenn du möchtest, wir könnten ...«, versuchte ich es erneut. »Meine Eltern sind nicht ...«
    Er küsste mich lang und sehnsüchtig. Er schlug die Arme um mich und drückte mich so heftig, dass mir buchstäblich die Luft wegblieb.
    Ich spürte die Härte seines Geschlechts, ein Schauer von unbekanntem Verlangen schüttelte mich. Das war es wohl. Ich war bereit. Ja, ich war bereit.
    »Komm!«, sagte ich, sobald ich wieder Luft bekam.
    Nur widerstrebend lockerte er seine Umarmung. Doch ganz ließ er mich nicht los.
    Wir standen eng voreinander.
    »Jasmin«, flüsterte er und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Du bist mein Leben, mein Atem, das Haus meines Herzens. Ich möchte dich in meinen Armen halten und nie wieder loslassen. Aber ...«
    Er blickte zur dunklen Scheibe des Pförtnerhäuschen hinüber.
    »... ich kann da nicht hinein, Jasmin. Der Pförtner kennt mich. Und die Häuser haben Augen.

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